Was ist ein Umbruch?

Umbruch als wissenschaftlicher Gegenstand
Zäsur bzw. Umbruch ist ein Gegenstand von historiographischem Interesse (vgl. z.B. Broszat, Zäsuren nach 1945, München 1990), was auch zur Folge hat, dass er als Kategorie reflektiert wird. So definiert Schwarz (ebd., S. 11f.) Zäsur als "jene Veränderungen in Strukturbedingungen oder im Verhalten, die fundamentaler Natur sind und die sich im zeitlichen Ablauf auch einigermaßen präzise lokalisieren lassen." Die Paradigmen der Sprachgeschichte und der Sprachwandeltheorien dagegen spiegeln zwar ein Bewusstsein von Phasen sehr dynamischer sprachlicher Entwicklungen und von soziopragmatischen Sprachgebrauchsimplikationen, nicht jedoch ein Interesse an dem gesellschaftlich bedingten initialen Moment, an dem anfänglichen Auslöser von Sprachwandel. Ihnen fehlt m.a.W. eine Umbruchkonzeption, die Gesellschafts- und Sprachgeschichte in diesem Sinn aufeinander beziehen.

Zäsuren des 20. Jahrhunderts
Die historiografische Zäsurgeschichte des 20. Jahrhunderts rechnet mit vier Ereignissen, die mit Recht unter die Kategorie "politischer Umbruch" zu fassen sind (vgl. Papenfuß/Schieder): das Ende des Ersten Weltkriegs und der Beginn der Weimarer Zeit (1918/19; "Demokratiediskurs 1918-1925"), deren Ende mit dem Beginn der Nazidiktatur (1933), dessen Ende und das Ende des Zweiten Weltkriegs (1945; "Schulddiskurs 1945-1955") und der Fall der Berliner Mauer und die Auflösung der Blöcke (1989). Aus der Perspektive der Sozialgeschichte (vgl. u.a. Schulze 1993) und auch der Sprachgeschichte ist die Zäsur von 1967/68 zu ergänzen ("Protestdiskurs 1967/68"). Sie steht zwar nicht im Kontext eines gesellschaftlich-politischen Wechsels, kann jedoch angesichts ihrer nachhaltigen sprach- und mentalitätsgeschichtlich evidenten Veränderungen in den Umbruchkanon aufgenommen werden.

Aspekte eines sprachlichen Umbruchs
Es gibt von Zeit zu Zeit Phasen der Gesellschafts- und Politikgeschichte, die plötzliche sprachliche Veränderungen auslösen bzw. sprachlichen Entwicklungen eine besondere Dynamik verleihen. Zur Erfassung solchen raschen sprachgebrauchsgeschichtlichen Wandels steht die Kategorie des sprachlichen Umbruchs bereit.

"Umbruch" ist keine Kategorie des allgemeinen Sprachwandels bzw. der allgemeinen Sprachgeschichte, sondern eine auf Gesellschafts- und Politikgeschichte bezogene sprachgebrauchsgeschichtliche Kategorie zur Beschreibung rascher sprachlicher Veränderungen, die mit plötzlichen gesellschaftlich-politischen Veränderungen in Zusammenhang stehen.

  • Umbruch ist - je nachdem, welches politische System von welchem politischen System  abgelöst wird - nicht unbedingt nur ein einfacher Ablöseprozess, sondern unter bestimmten Bedingungen Kampf von Alt mit Neu und gekennzeichnet von der dissonanten Gleichzeitigkeit von Neuerungs- und von Beharrungsphänomenen. Die Beschaffenheit des abzulösenden bzw. des ablösenden gesellschaftlich-politischen Systems ist ausschlaggebend dafür, ob es diskursive geschichtliche und damit sprachgeschichtlich zu beschreibende Beharrungsphänomene gibt oder nicht. Gleichzeitigkeit von Neuerung und Beharrung kann Umbruchmerkmal sein.
     
  • Umbruch manifestiert sich nicht nur in "echten" sprachlichen Innovationen, sondern auch in Modifikations- und Frequenzveränderungen von Themen, Diskursteilnehmern, Texten und Textsorten oder Kommunikationsmustern, sowie von Leitwörtern.
     
  • Umbruch bezieht sich auf in kurzer Zeit erfolgende Veränderungen auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen, die zunächst in direktem Zusammenhang mit plötzlichen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen stehen, die dann jedoch von der Ereignisebene auf die Ebene des Kontinuums übergehen.
     
  • Umbruch ist sprachgeschichtlich eine kurze transitorische Phase, in der der sprachliche Bestand durch Innovationen ergänzt, abgelöst und ersetzt wird. Lexikalischer Umbruch vollzieht sich z.B. durch das Aufkommen eines neuen politisch-sozialen Wortschatzes bei gleichzeitigem Fortbestand des traditionellen Wortschatzes. Umbruch ist also dieses Szenario der Erneuerung und der Beharrung, das diskursiv konstituiert ist und ein Grundprinzip politischer und gesellschaftlicher Umbrüche darstellt. In lexikalischer Hinsicht sind daher in sprachlichen Umbruchphasen insbesondere semantische Übergangs-, Beharrungs- und Neuerungsphänomene hinsichtlich ihrer Dynamik zu beschreiben, sowie semantische Kämpfe.
     
  • Umbruchbewusstsein ist ein Kriterium von Umbruch. Bewusstseinsgeschichte ist eine historiografische Kategorie, und auch die Sprachgeschichte beschreibt Ausdrucksformen von Bewusstsein von Sprachteilhabern über sprachliche Veränderungen als ein erkenntnisförderndes Phänomen. Umbruchbewusstsein drückt sich insbesondere aus in einer zunehmenden Dichte von Reflexionen über Zeit in den drei Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gegenwartsbezogene Reflexionen, signalisiert z.B. von einem erhöhten Gebrauch von Zeitdeiktika wie heute, in diesen Zeiten, in unserer Gegenwart, sind von herausragendem umbruchgeschichtlichem Wert. Gesellschaften realisieren besonders in Zeiten raschen Wandels je spezifische Deutungsmuster von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und abgesehen davon, dass diese Reflexionen im Idealfall auf sprachliche Veränderungen verweisen, sind ihre sprachlichen Manifestationen an sich in Form von Zeitdeiktika in jedem Fall bewusstseinsgeschichtliche Indikatoren.