Januar 2020

30. Januar 1933

Pressemitteilung des Berliner Abendblatts 'Der Angriff' vom 30. Januar 1933 zur Machtergreifung

Dass der 30. Januar 1933, an dem Reichspräsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannte, eine historische Zäsur darstellt, ist rückblickend betrachtet offensichtlich. Aus der Perspektive einer sprachlichen Sozialgeschichte des Nationalsozialismus erscheint es umso wichtiger, danach zu fragen, wie die unmittelbaren Zeitgenossinnen und -genossen den 30. Januar wahrgenommen, mit Bedeutung versehen und somit als historische Zäsur konstruiert haben. Dies betrifft zum einen die offiziellen propagandistischen Reden und Verlautbarungen, die den 30. Januar als "Tag der nationalen Erhebung", der "Machtübernahme" bzw. "-ergreifung" markierten (vgl. Frei 1983), an dessen jährlichem Jubiläum öffentlich nationalsozialistische Flaggen zu hissen waren. Damit verknüpft war eine scharfe Abgrenzung zur vorhergehenden, verächtlich gemachten „Systemzeit“ der Weimarer Republik. Aber es schließt auch die Äußerungen jener zahlreichen Menschen ein, die den Nationalsozialismus aktiv unterstützten oder diesem wohlwollend gegenüberstanden, diesem Deutungsangebot folgten und es in eigene lebensgeschichtliche Narrative übernahmen.

Um die Vielschichtigkeit dieser sprachlichen Inwertsetzungspraktiken des 30. Januar 1933 sichtbar zu machen, wurden drei Belegstellen ausgewählt. Sie geben Beispiele dafür ab, auf welche Weise und auf welchen Ebenen während des Nationalsozialismus chronologische Daten in Instanzen des kollektiven Gedächtnisses transformiert wurden (vgl. Kämper 2015).

Quellentext

Quellentext 1:

Adolf Hitler: Rede vor dem Reichstag, 20. Februar 1938.

„Als mich am 30. Januar vor fünf Jahren der Herr Reichspräsident Generalfeldmarschall von Hindenburg um die Mittagsstunde mit der Kanzlerschaft und damit mit der Führung des Reiches betraute, war in den Augen von uns Nationalsozialisten eine Wende des deutschen Schicksals angebrochen. […]

Der Tag, an dem ich als Chef der größten deutschen Oppositionspartei in das Haus am Wilhelmsplatz ging und als Führer und Kanzler der Nation heraustrat, war ein Wendetag in der Geschichte unseres Volkes, damals, jetzt und für alle Zeiten. […]

Wenn in einem Lande Hunderttausende von Bauern vor dem Verlust ihrer Höfe und Ländereien stehen, wenn Hunderttausende gewerblicher Arbeiter ihr Brot verlieren, wenn Zehntausende von Unternehmungen die Tore schließen müssen, Angestellte und Arbeiter zur Entlassung kommen, wenn eine Armee von über sechs Millionen Erwerbsloser, die sich dauernd noch vermehrt, immer drückender auf den Finanzen des Reiches, der Länder und der Kommunen lastet, im übrigen aber trotz aller Unterstützungen kaum das Nötigste zum Leben kaufen kann, wenn ein geistiges Proletariat entsteht, dem die erworbene Bildung zum Fluch statt zum Segen gereicht, wenn alte blühende Industriestädte veröden, große Gebiete mangels Absatzes ihrer Produktionen förmlich auszusterben beginnen, wenn in anderen wieder die Kinder mit drei und vier Jahren keine Zähne bekommen infolge einer grauenerregenden Armut und der daraus folgenden Unterernährung, wenn weder Brot noch Milch für sie beschafft werden kann, wenn das Wort eines hartherzigen Feindes, daß in unserem deutschen Volke 20 Millionen Menschen zu viel lebten, auf diese Weise allmählich fast durch die furchtbare Wirklichkeit ihre Bestätigung findet, dann schreit ein solches Volk nicht nach journalistischen Skribenten oder parlamentarischen Schwätzern, es schreit nicht nach Untersuchungskommissionen, nach internationalen Debatten, nach lächerlichen Abstimmungen oder nach seichten Redensarten in- oder ausländischer sogenannter Staatsmänner! Nein! Es schreit nach jener Tat, die über Schwätzen und blöden Zeitungsartikeln hinweg die Rettung bringt.“

Quellentext 2:

Alfred Klinghammer, Frühjahr 1934:

„Trotz mancher Rückschläge und Schwierigkeiten ist mir nie der Gedanke gekommen, die Partei und damit meinen Führer zu verlassen. Allen zum Trotz arbeiteten wir uns an den grossen Tag, dem 30. Januar 1933 heran. Die Krönung unserer Arbeit sah ich darin, dass der greise Feldmarschall dem jungen Deutschland die Macht gab, indem er den Reichskanzlerposten unserm Führer Adolf Hitler übertrug. Das Rätselraten um uns und den Führer war zu Ende. Mit eiserner Faust wurde durchgegriffen und das geflügelte Wort unseres Pg. Dr. Goebbels: ‚Legal bis zur letzten Galgensprosse, gehenkt wird doch‘ mussten nun verschiedene Volksverbrecher als Tatsache geworden hinnehmen. Nun könnte man annehmen, dass nach dem 30.1.33 der Kampf für uns zu Ende sei. So ist es nicht! Eroberte Stellungen müssen ausgebaut werden, denn hinter diesen baut sich in intensiver Arbeit in Friedenswerk auf. So stehe ich heute als Beamter hauptamtlich, als Führer des Res.Sturms 4/2 und Fachschaftsgruppenleiter nebenamtlich im weiteren Kampf um das Gelingen eines gigantischen Werkes unseres Führer. Führer befiehl, wir folgen!“

Quellentext 3:

Deutscher Prüfungsaufsatz Gymnasium zu Berlin-Steglitz, den 23.1.1939.

„Ein grauer, trüber Wintertag, der 30. Januar 1933. Dunkel und schwer hängen die Wolken am Himmel. Ein Tag wie jeder andere. Gegen Mittag durchbrechen die Strahlen der steigenden Sonne für wenige Augenblicke das dunkle Grau. Plötzlich kommt Bewegung in die Massen der Menschen: Extrablätter sind erschienen, der greise Generalfeldmarschall des ‚großen Krieges‘ hat den Führer der nationalsozialistischen Bewegung zum Reichskanzler ernannt. Der Tag versinkt, der Abend kommt über die lärmende Großstadt. Doch die Bewegung der Massen will sich nicht legen. In Zwölferreihen ziehen die Berliner im Fackelzug am Führer vorbei. Auf dem Balkon der Reichskanzlei steht ein einsamer Mann, der Führer. Vierzehn Jahre hat er gekämpft für sein Volk, schwerer Kampf erwartet ihn: Uneinigkeit im Innern, ein Heer von Arbeitslosen, Haß und Mißgunst vom Ausland. Der Führer weiß: Von einem Ring von Feinden sind wir umgeben. Einen nach dem anderen gilt es, aus diesem Ring herauszusprengen und zu uns zu ziehen. Ist es gelungen, den Ring der äußeren Feinde zu durchbrechen, so ist auch friedliche Aufbauarbeit im Innern möglich.  Der Führer erreicht, was er will.“

Kommentar

Die jährliche Wiederkehr des Tages der ‚Machtübernahme‘ wurde speziell von Hitler selbst dazu genutzt, Fortschritte und Erfolge seiner Politik seit seinem Antritt als Reichskanzler zu verkünden. Meist fielen die Reden auf den 30. Januar und markierten den Tag bereits dadurch als bedeutungsvoll. 1938 wurde die Rede allerdings aufgrund der Ereignisse rund um den ‚Anschluss‘ Österreichs auf den 20. Februar gelegt.

In nahezu allen Hitlerreden zu diesem Anlass finden sich neben Erklärungen zu jeweiligen zeitgenössischen politischen Entwicklungen und Maßnahmen solche Bezüge auf den 30. Januar 1933, wie sie hier auszugsweise zitiert sind. Die stilisierte Wiedergabe der Geschehnisse: Hitler, der mittags zu Hindenburg gerufen wird, während seine Anhänger draußen bangen und hoffen, der alte Reichspräsident, der ihm die Kanzlerschaft überträgt und der anschließende Jubel seiner Anhänger – sie findet sich in unzähligen Varianten in der textlichen, bildlichen und filmischen Propaganda des NS-Regimes. In der hier vorzufindenden Version sind drei Aspekte hervorzuheben:

  1. Prägnant ist das ‚Wende‘-Vokabular, und zwar einerseits in seiner Beziehung zum Schicksalhaften („Wende des deutschen Schicksals“), zum anderen in seiner Beziehung zum Volkskonzept („Wendetag in der Geschichte unseres Volkes“). Mit der Ergänzung „damals, jetzt und für alle Zeiten“ wird diesem Tag eine fundamentale historische Bedeutung zugesprochen.
  2. Interessant sind die Selbstbeschreibungen Hitlers: Zu Hindenburg ging er als „Chef der größten deutschen Oppositionspartei“, als „Führer und Kanzler der Nation“ kam er zurück.
  3. Gemäß dem Wendekonzept markierte der 30. Januar 1933 im Diskurs des NS-Apparates sowohl den Anbruch der ‚neuen Zeit‘ als auch den Abschluss der verhassten ‚Systemzeit‘ (bzw. die Erfüllung der Ziele der ‚Kampfzeit‘). Sehr drastisch gerät demgemäß die Schilderung der Situation vor dem 30. Januar 1933. Und dem nationalsozialistischen Anspruch folgend, vom Volk berufen und legitimiert worden zu sein, erscheint ebenjenes als Akteur, der nach „jener Tat“ geschrien habe, die „die Rettung bringt.“

Auch in jenen lebensgeschichtlichen Essays, in denen Anhänger*innen der NSDAP auf ein Preisausschreiben des amerikanischen Soziologen Theodore Abel im Frühjahr 1934 hin berichteten, wie sie ‚Nazi‘ wurden, wird der 30. Januar 1933 vielfach als entscheidende Zäsur markiert, als „Krönung unserer Arbeit“. Erneut treffen wir auf die Erzählung des „greise[n] Feldmarschall[s]“, der dem „jungen Deutschland“ – eine oft verwendete, zeitlich konnotierte nationalsozialistische Selbstbezeichnung – die Macht übertrug.

In den Narrativen der ‚Alten Kämpfer‘ trennt das Datum die ‚heldenhafte‘ Zeit der „Rückschläge und Schwierigkeiten“ von der Zeit, in der das „gigantische[…] Werk[…]“ nun errichtet werden sollte. Interessant an diesem Beispiel ist die Fortsetzung der Kampfsemantik aus der ‚Kampfzeit‘ in die Phase nach dem 30. Januar 1933. Sie mündet in der ultimativen Loyalitätsbekundung „Führer befiehl, wir folgen!“

Dass die in Rede, Bild und Film verbreitete dramaturgische Stilisierung des Tages der Machtübergabe mustergültig angeeignet und reproduziert werden konnte, zeigt die letzte Belegstelle, die auch aus einem SA-Roman stammen könnte. Besonders hervorstechend ist die Eingangssequenz, in der das Bedeutungsschwangere dieses Tages über die Wetterbeschreibungen vermittelt wird. Auch das akklamatorische Moment ist sehr präsent: Es sind die „Massen“, deren „Bewegung […] sich nicht legen [will]“, „die Berliner“, die am „Führer“ vorbeiziehen. Dieser selbst ist die zentrale Figur in der Darstellung, wobei der Selbstinszenierung als „einsamer“, wissender Mann, der „für sein Volk“ gekämpft hat und weiter kämpft, gefolgt wird. Der letzte Satz fasst die zwei Ebenen des 30. Januar 1933 noch einmal zusammen: Der „Führer“ habe seinen ‚Kampf‘ um die Macht an diesem Tag gewonnen und in der Folgezeit, die Herausforderungen, die sich im stellten, gemeistert.

An vielen Stellen lässt sich also beobachten, dass die nationalsozialistische Instanziierung des 30. Januar 1933 als positiv bedeutsam für Deutschland, für das ‚Volk‘, aber auch die Einzelnen, durchaus ihren Niederschlag fand – vor allem natürlich bei Menschen, die dem Nationalsozialismus wohlwollend gegenüberstanden. Kontrastierend zu ergänzen wäre diese Perspektive selbstverständlich mit Deutungen des 30. Januar 1933, die von Ausgegrenzten, Verfolgten und Kritiker*innen stammten. Aber auch Personen aus der integrierten Gesellschaft folgten nicht immer und in jeder Kommunikationssituation der emotionalen und dramaturgischen Aufladung dieses Datums. Am 2. Februar 1944 schrieb Ernst Guicking beispielsweise in einem Feldpostbrief lapidar an seine Frau: „Du, gestern haben wir den 30. Januar gefeiert. Ich kann Dir nur sagen, daß ich solch ein Besäufnis noch nicht erlebt habe. Einfach toll.“

Literaturverzeichnis

Frei, Norbert: "Machtergreifung"‘. Anmerkung zu einem historischen Begriff, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31/1 (1983), S. 136-145.

Kämper, Heidrun: "Kollektives Gedächtnis" als Gegenstand einer integrierten Kulturanalyse. Kulturlinguistische Überlegungen am Beispiel, in: Kämper, Heidrun/Warnke, Ingo H. (Hg.): Diskurs – interdisziplinär: Zugänge, Gegenstände, Perspektiven, Berlin 2015, S. 161-188.