Dezember 2019

Dezember 1942 und 1943

Madonna von Stalingrad, gezeichnet Weihnachten 1942 von Kurt Reuber, Pfarrer und Stabsarzt im Kessel von Stalingrad

„Es ist verschiedentlich aufgefallen, daß der Rundfunk das althergebrachte christliche Liedgut besonders am Heiligen Abend bevorzugt hat. So seien beispielsweise die Lieder ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘ und ‚Es ist ein Ros‘ entsprungen‘ sehr oft gebracht worden. Man habe hierin ein Zugeständnis an alte Gewohnheiten und einen Mangel an brauchbaren und volkstümlichen Neuschöpfungen gesehen. Die häufige Sendung dieser christlichen Weihnachtslieder habe gezeigt, daß ohne diese eine eigentliche weihnachtliche Stimmung für große Teile des Volkes offenbar nicht möglich sei.“ (Meldungen aus dem Reich 9, 3135f.) Dies ist in einem Bericht vom 8. Januar 1942 zu lesen, der die Stimmung in der Bevölkerung zur Weihnachtszeit wiedergibt. Zu diesem Zeitpunkt versucht das Regime seit etwa neun Jahren, sein Konzept einer „Deutschen Weihnacht“ durchzusetzen – mit einer Politisierung und „Germanisierung“ der Symbolik, so dass z.B. Weihnachtskugeln mit Hakenkreuzen und Runen geschmückt waren, mit einer Ersetzung christlich-weihnachtlicher Personage durch Frau Holle und die Leitfigur der „deutschen Mutter“. Und: mit Umdichtungen traditioneller Texte von Weihnachtsliedern.

Um zu erkennen, welche sprachlichen Strategien bei der Umdichtung angewendet wurden, bietet es sich an, nach intertextuellen Bezügen zu suchen. ‚Intertextualität‘ bezeichnet alle Arten von sprachlichen Bezugnahmen auf andere Texte und ist ein allgemeines Phänomen. Denn kein Text kann ohne irgend einen Bezug auf andere historische und zeitgenössische Texte verfasst werden.: „Jeder Text wird vom Produzenten wie vom Rezipienten mit Bezug auf Textwissen und Texterfahrung, d. h. vor dem Hintergrund zuvor produzierter und rezipierter Texte, in der Kontinuität des jeweiligen Umgangs mit Texten wahrgenommen.“ (Fix 2008, 449) Dieses allgemeine Phänomen ist im Kontext ideologisierender Umdichtungen bekannter traditioneller Texte, wie Weihnachtsliedern, von besonderer Bedeutung.

Wie diese Texte im nationalsozialistischen Sinn ideologisiert werden und welche Rolle die Vorlage dabei spielt, lässt sich an den beiden bereits zitierten Liedern, „Stille Nacht“ und „Es ist ein Ros‘ entsprungen“, zeigen.

Quellentext

Original von 1818

Stille Nacht, heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
Nur das traute, hochheilige Paar.
Holder Knabe im lockigen Haar,
Schlaf in himmlischer Ruh,
Schlaf in himmlischer Ruh.

Stille Nacht, heilige Nacht!
Gottes Sohn, o wie lacht
Lieb aus deinem göttlichen Mund,
Da uns schlägt die rettende Stund,
Christ, in deiner Geburt,
Christ, in deiner Geburt.

Stille Nacht, heilige Nacht!
Hirten erst kundgemacht,
Durch der Engel Halleluja.
Tönt es laut von fern und nah:
Christ, der Retter ist da,
Christ, der Retter ist da!

Umdichtung von 1942

Stille Nacht, heilige Nacht
O wie schön! Welche Pracht!
In dem festlichen, trauten Raum
steht der strahlende Lichterbaum!
Weihnacht ist wieder da!
Weihnacht ist wieder da!

Stille Nacht, heilige Nacht –
Kinderschar, o wie lacht
Freude euch aus Herz und Mund!
Weihnachtswunder tut sich euch kund!
Werdet Lichtsucher all!
Werdet Lichtsucher all!

Stille Nacht, heilige Nacht –
Kerzenschein flimmert sacht –
Das zum Leben erweckende Licht
Sieghaft durch das Dunkel bricht!
Freuet euch und seid froh!
Freuet euch und seid froh!

Original von 1599

Es ist ein Ros entsprungen
aus einer Wurzel zart,
wie uns die Alten sungen,
von Jesse kam die Art
und hat ein Blümlein bracht
mitten im kalten Winter
wohl zu der halben Nacht.

Das Röslein, das ich meine,
davon Jesaja sagt,
ist Maria, die reine,
die uns das Blümlein bracht.
Aus Gottes ewgen Rat,
hat sie ein Kind geboren,
und blieb eine reine Magd.

Umdichtung von 1942

Uns ist ein Licht erstanden
in einer dunklen Winternacht.
So ist deutschen Landen,
der Glaube neu entfacht.
Es kommt der Sonne Schein!
Nach vielen harten Tagen,
muß Sieg und Frieden sein.

Den Müttern an der Wiege,
den Kindlein sei beschert,
durch unsere Kraft im Kriege,
Ein Leben glückbeschwert!
Gott mach das Herze weit,
daß es dies Licht bewahre,
durch jede dunkle Zeit.

Umdichtung von 1943

Nun leuchtet’s in den Herzen
Und aller Mütter Traum
Blüht leis in lichten Kerzen,
Jung grünt der Lebensbaum.
Die liebe Weihnachtszeit
Sagt von stets neuen Werden
Und Gottes Ewigkeit.

Will auch ein Jahr sich legen,
Dem nächsten reicht’s die Hand,
Viel hundert Keime regen
sich bald im weiten Land.
Viel tausend Kinderlein
Sind unsres Volkes Morgen,
Des laßt uns fröhlich sein!

Kommentar

Zentraler Topos des Originaltexts ist die Geburt Jesu Christi. Die unterschiedlichen Ersetzungen, die den gesamten Text durchziehen, holder Knabe, Gottes Sohn, Christ und Retter, referieren sämtlich auf Jesus und bilden so eine kohärente Isotopie des Textes. Auf dieser Isotopieebene wird die Szene beschreiben (1. Strophe), die Bedeutung der Geburt gepriesen (2. Strophe) und die Umstände ihrer Entdeckung mit dem Verkündungsmotiv dargestellt (3. Strophe).  

Die Eigenschaftszuschreibung Retter, im Refrain der letzten Strophe wiederholt und zuvor bereits angelegt mit rettende Stund drückt in besonderer Weise die Bewertung des Ereignisses aus.

Der umgedichtete Text von 1942 hat zum Gegenstand den geschmückten Baum, fröhliche Kinder und ein verheißungsvolles Licht. Intertextualität stellt die Umdichtung von 1942 her

  • auf der formalen Ebene (gleiche Anzahl der Strophen und Verse, gleiches Reimschema, gleiches Versmaß)
  • auf der Satzebene (alle drei Strophen beginnen wie die des Originals mit Stille Nacht, heilige Nacht)
  • der Wortebene, indem wesentliche christlich-weihnachtliche Leitwörter, wie Weihnacht(-swunder), Licht), sowie einzelne Wörter (o wie, traute, Mund) aufgenommen werden. 

Das ideologisierende Element besteht nur in dem Wort sieghaft, das erst in der drittletzten Zeile vorkommt. Mitten im Krieg lässt es keine andere Deutung zu als die, dass sich hier ein politischer Wunsch ausdrückt.   

Auch dieser rätselhafte Text handelt von der Geburt Jesu Christi. Allegorisch wird mit dem treibenden Reis, also kleinen Zweig (für Ros) auf Jesus Bezug genommen, auf dessen Geburt als die Erfüllung einer Prophezeiung, und es wird die Jahreszeit, kalter Winter, bezeichnet. In der zweiten Strophe, in der der Urheber der Prophezeiung, nämlich Jesaja, bezeichnet wird, kommt außerdem Maria ins Spiel als jungfräuliche Gottesmutter.

Auch diese Umdichtung stellt intertextuelle Bezüge her

  • auf der formalen Ebene (gleiche Strophen- und Verszahl, gleiches Reimschema, gleiches Versmaß)
  • auf der Wortebene mit den christlich-weihnachtlichen Leitwörtern Licht, Kindlein, Gott.

Der ideologisierte Text von 1942 stellt in den Formulierungen deutschen Landen, Sieg und Frieden, unsere Kraft im Kriege den offensichtlichen Zeitbezug her: Die ersten vier Verse der ersten Strophe stellen allegorisierende Bezüge zum „Erscheinen“ Adolf Hitlers her. Diese Gleichsetzung mit Jesus entspricht durchaus dem Selbstkonzept Hitlers als Messias, dem Verständnis des NS als Religionsersatz. Dies drückt sich darüber hinaus in der Formulierung Glaube neu entfacht aus, indem Glaube die vom NS geforderte Haltung zu ihm bezeichnet. Mit Sieg und Frieden wird dann der gewünschte Ausgang des Krieges ausgedrückt. Die zweite Strophe bezieht sich auf das Szenario der Geburt Jesus, die umgedeutet wird, wiederum mit Bezug auf die Kriegssituation und das erfolgreiche Ende. Abschließend wird ein Wunsch im Stil eines Bittgebets formuliert, mit Verwendung der christlich-weihnachtlichen Lichtsymbolik. 

Die Version von 1943 stellt wiederum intertextuelle Bezüge her

  • auf der formalen Ebene (gleiche Strophen- und Verszahl, gleiches Reimschema, gleiches Versmaß)
  • auf der Wortebene mit den christlich-weihnachtlichen Leitwörtern leuchten, Weihnachtszeit, Gottes Ewigkeit, Kinderlein.
  • durch den Gebrauch bedeutungsähnlicher Wörter blühen (zu Ros/Blümlein), Gottes Ewigkeit (zu Gottes ewgen Rat), Keime (zu Ros entsprungen).

Die Ideologisierung dieses Textes von 1943 besteht darin, dass er mit aller Mütter Traum, wie der von 1942 mit den Müttern an der Wiege, auf den Mütterkult referiert, der in der NS-Zeit den christlich-weihnachtlichen Jesus- und Mariabezug ersetzen sollte. Zudem wird das christliche Symbol des Weihnachtsbaums ersetzt durch Lebensbaum (mit dem die germanische Weltesche gemeint ist). Die Formulierung unseres Volkes Morgen stellt außerdem ein völkisch-nationalistisches Element dar.

Insgesamt spiegelt auch dieser Text den Kriegsverlauf wider und muss, wie viele Schlager und Filme dieser Zeit, als Durchhalteappell gelesen werden: Der sog. „Kessel von Stalingrad“ und die Erkenntnis, dass der Krieg (auf jeden Fall im Osten) verloren war, prägt die Wahrnehmung, der mit diesem mit Zuversichts- und Kontinuitätsbotschaften aufgeladenen Text entgegengewirkt werden sollte.

Überblick über die Verwendung bedeutungsähnlicher oder -verwandter Wörter aller drei Fassungen:

  • Ros‘ entsprungen (1599) – Licht erstanden (1942) – Blüht leis, Keime regen (1943)
  • halbe Nacht (1599) – dunkle Winternacht (1942)
  • Maria, reine Magd (1599) – Mütter (1942) – Mütter (1943)
  • Kind (1599) – Kindlein (1942) – Kinderlein (1943)
  • Gottes ewgen Rat (1599) – Gott macht das Herze weit (1942) – Gottes Ewigkeit (1943).

Wir können feststellen: Der Anpassung der Texte traditioneller Weihnachtslieder an die nationalsozialistische Ideologie der „Deutschen Weihnacht“ liegt die sprachliche Strategie der Beibehaltung formaler Strukturelemente (womit übrigens auch die Singbarkeit nach den vertrauten Melodien gewährleistet war) zugrunde, sowie die Verwendung christlich-weihnachtlich konnotierter Leitwörter bei gleichzeitiger, mehr oder weniger intensiver, Implementierung ideologisierter Textelemente. Damit wurde eine Strategie umgesetzt, die als eine generelle Praxis des NS bezeichnet werden kann: Indoktrination durch Adaption. Zwar lässt sich schwerlich der „Erfolg“ dieser Adaptionen, wie überhaupt der germanisierenden Uminterpretation des Weihnachtsfests, bemessen. Die oben aus den „Meldungen aus dem Reich“ zitierte Aussage lässt aber den Schluss zu, dass er mäßig war. Und: dass dies von den Nazis auch erkannt wurde. 

Literaturverzeichnis

Cornelius, Nadja (2003): Genese und Wandel von Festbräuchen und Ritualen in Deutschland von 1933 bis 1945. (Kölner ethnologische Beiträge. Band 8.)

Fischer, Michael (2005): Vater steht im Feld und hält die Wacht: Die Schrift Deutsche Kriegsweihnacht als Mittel der Propaganda im Zweiten Weltkrieg. In: Michael Fischer (Hg.): Lied und populäre Kultur/Song and Popular Culture, S. 99-135.

Fix, Ulla (2008): Aspekte der Intertextualität. In: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 16/1: Text- und Gesprächslinguistik. Berlin, New York, 449-457.

Klein, Josef/Fix, Ulla (1997; Hgg.): Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität. Tübingen: Stauffenberg