Mai 2021

Eine Flugschrift der Alliierten als Appell

Flugschrift mit Annotationen (Quellentext)

Kommentar

Bei dem hier vorgestellten Dokument, das aus den Beständen der US-amerikanischen National Archives zu Abhör- und Verhörprotokollen deutscher Wehrmachtsgefangener stammt, handelt es sich mutmaßlich um eine Flugschrift bzw. den Entwurf einer solchen, die von den Alliierten gegen Ende des Krieges über dem deutsch-besetzten Teil Südfrankreichs abgeworfen wurde bzw. werden sollte (vgl. hierzu Rauchhaus/Roth 2020). Diese Vermutung legen der Text selbst, aber auch die handschriftlichen Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge nahe, die sehr wahrscheinlich von gefangenen Wehrmachtssoldaten, die mit den Alliierten kooperierten, angefertigt wurden.

Wie zu sehen ist, besteht die Flugschrift aus zwei Teilen, die Vorder- und Rückseite darstellten. Auf der ersten, in größerer Schrift bedruckten Seite wird auf konstatierende Weise ein Bedrohungszustand festgestellt, in dessen Zentrum ein den deutschen Soldaten bekanntes Feindbild („Die Russen“) und eine drastische Beschreibung stehen („Der Krieg mit all seinen Schrecken wuetet in Deiner Heimat“). Die hier bereits vollzogene persönliche Adressierung deutscher Soldaten mit ‚Du‘ wird auf der zweiten Seite fortgesetzt und in einen Appell transformiert, der in der Schlusspassage kulminiert („Du kannst es tun, Du musst es tun und das wird das grosse Wunder sein“). Direkt appellierende Formulierungen im Imperativ, mit denen die Soldaten zur Aufgabe bewegt werden sollten, finden sich darüber hinaus wiederholt im Text („Denk an Deine Frau, an Deine Kinder; denk an Deine Eltern, Deine Schwestern!“; „Mach Schluss! Rette von der Heimat, rette von Deutschland, was noch zu retten ist!“).

Das Schreckensszenario, das auf der ersten Seite der Flugschrift eröffnet wurde, wird auf der zweiten Seite weiter ausgebaut und schließt explizit an die Erfahrungswelt der Soldaten an („Du weisst, was Krieg bedeutet“). Verstärkt wird das Szenario durch den erneuten Verweis auf „die Russen“, die „es“ kennen würden, weil sie „es am eigenen Leib bitter erfahren“ mussten.

Leitmotivisch wird der Text schließlich durch den Rekurs auf „Wunder“ strukturiert: Das „grosse Wunder“, das Adolf Hitler den Soldaten versprochen hatte, sei nicht eingetreten. (In der gleich doppelt auftauchenden Formulierung lässt sich der Versuch erkennen, den teils noch unerschütterlichen Glauben an den ‚Führer‘ ins Wanken zu bringen.) Stattdessen sei ein anderes „Wunder“ geschehen, nämlich der Einmarsch russischer Truppen auf deutsches Reichsgebiet. Schließlich wird an die deutschen Soldaten appelliert, nun selbst das „Wunder“ zu vollbringen, den Widerstand gegen die Alliierten in Südfrankreich aufzugeben und zurückzukehren in die „Heimat“, um zu retten, „was noch zu retten ist“.

Die Anmerkungen und Kommentare, die den unterschiedlichen Farben und Handschriften zufolge wahrscheinlich von zwei Personen angebracht wurden, heben einige Passagen positiv heraus. Speziell der persönlich appellierende Charakter des Textes sowie der Hinweis auf die enttäuschten Versprechungen eines großen Wunders durch Adolf Hitler werden für „gut“ bzw. „ausgezeichnet“ befunden. Die Ausmalung des Schreckensszenarios wird hingegen ambivalent kommentiert. Zwar geht aus den Anmerkungen hervor, dass sowohl der Verweis auf den „Schrecken“ des Krieges, der nun in der Heimat „wuetet“, als auch die Erwähnung der „so oft tot gesagten russischen Armee“ für „sehr gut“ befunden wurden. Die groß gedruckte plakative Überschrift „Die Russen sind in Ostpreussen“ findet allerdings keine Zustimmung. Mit roter Farbe ist sie durchgestrichen, der zweite Kommentator merkt mit schwarzem Stift an: „Derartige Überschriften rufen viel eher hervor, dass der deutsche Soldat umso verbissener kämpft, sieht aus als ob schon alles verloren sei. Möglichst klein drucken, so nebenbei erwähnen. Regt zu bangen Zweifeln an und wirkt deshalb zersetzender auf die Moral des Soldaten.“

Mutmaßlich derselbe Kommentator schlägt zudem vor, den Text um den Schlusssatz zu ergänzen: „Dass Du aus diesem erbitternden Kampf Dir, Deiner Heimat und Deinem Volk doch noch Vieles vor der völligen Vernichtung rettest.“ Noch einmal wird hier der appellierende Charakter des Textes deutlich, der versucht, an die Gefühlswelt, die Ängste und Sorgen der Soldaten anzuknüpfen, um sie zur Aufgabe im Krieg zur bewegen.

Literaturverzeichnis

Rauchhaus, Moritz/Roth, Tobias (Hg.) (2020): Feindflugblätter des Zweiten Weltkriegs. Berlin: Das Kulturelle Gedächtnis.

Abbildungen

National Archives and Records Administration, Washington D.C., Record Group 165, Enemy POW Interrogation File (MIS-Y), 1943-45, Box 503.