Juni 2021

Schuld und Selbstbestimmung. Überlegungen zum (gerechten) Wiederaufbau Deutschlands in Europa

Der Reichstag am 3. Juni 1945 nach der Bombardierung durch die Alliierten

Nachdem in den Jahren zuvor unzählige Städte zerstört, zig Millionen Menschen vertrieben, gefangen genommen, misshandelt und ermordet worden waren, trat am 8. Mai 1945 die Kapitulation der gesamten deutschen Wehrmacht in Kraft. Aufgrund der Hoffnung, dass der zweite Weltkrieg zu Ende gehen würde und Deutschland im Zusammenhang mit Europa wieder aufgebaut werden müsste, wurden verschiedene Überlegungen, Ideen, Auflistungen und Verfassungsansätze in den letzten Jahren des Krieges verfasst. Die beiden vorliegenden Textauszüge sind Beispiele davon. Der erste Text wurde von der in den USA ansässigen deutschen Exilorganisation Council for a Democratic Germany verfasst und der zweite Text wurde durch den Vorsitz der Arbeitsgemeinschaft Das Demokratische Deutschland herausgegeben, wozu unter anderen Josef Wirth (Zentrumspartei, Reichskanzler von 1921-1922), Otto Braun (SPD, fast durchgängig Ministerpräsident des Freistaats Preußen von 1920-1932) und Wilhelm Hoegner (SPD, späterer bayerischer Ministerpräsident) gehörten.

Die Adressaten der beiden Texte sind die Besatzungsmächte, also Alliierte und Sowjetunion, die, wie es den verfassenden Personen anscheinend bewusst war, die Kontrolle über Deutschland haben und den europäischen Wiederaufbau maßgeblich bestimmen würden. Mit diesem Wissen sind die Texte als Versuch zu lesen, eine mitbestimmende Diskursposition (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, S. 177-183) einzunehmen und zumindest als Diskursteilnehmer 'Voice' (vgl. ebd., S. 111-112, 179) oder gar Handlungsmacht bezüglich des deutschen Wiederaufbaus und der Schaffung eines dauerhaften Friedens in Europa zu erlangen. Ob dies gelungen ist, bleibt hier unbeantwortet, aber wie dies versucht wurde, zeigen die ausgewählten Textauszüge beispielhaft. Es handelt sich letztlich um Absichtserklärungen, die ihre Absicht mit auf antizipierten Folgen basierten Warnungen legitimieren und gleichzeitig durch Eingeständnisse eine Annäherung an die Adressaten ermöglichen, indem sie eine den Adressaten ähnliche Einstellung zu den Geschehnissen präsentieren. Gleichzeitig deuten diese Texte den nach 1945 beginnenden 'Schulddiskurs' (vgl. Kämper 2005; 2012) bereits an.

Quelltexte

Council for a Democratic Germany (1944): Programm für ein demokratisches Deutschland.

Die Lösung des deutschen Problems ist ein Teil der Lösung des europäischen Problems. Die berechtigten Ansprüche aller europäischen Nationen auf Wiederherstellung und Sicherheit müssen erfüllt werden, Maßnahmen, die die Wiederholung eines europäischen Krieges unmöglich machen, müssen getroffen werden, wenn die Neugestaltung Europas und eine Lösung des deutschen Problems in Angriff genommen wird. Es ist unvermeidlich, daß das deutsche Volk die Folgen des von Hitler verschuldeten Krieges tragen muß. Und doch kann niemand bezweifeln, daß es ohne eine gerechte Lösung der deutschen Frage keine dauerhafte Lösung der europäischen Frage gibt.

Die Vorbedingung jeder Lösung ist die Besiegung des Nationalsozialismus, die Vernichtung seiner Träger und die Ausrottung seines Geistes in Deutschland und in jedem anderen Land.

[…]

Es wäre verhängnisvoll für die Zukunft Europas, wenn Deutschland politisch und ökonomisch zerrissen würde. Das würde einen fruchtbaren Nährboden für pan-germanistische Bewegungen schaffen. Es würde Deutschland der Möglichkeit berauben, seine Zukunft verantwortlich zu gestalten, es würde die größte nationalsozialistische Irredenta aller Zeiten schaffen, und es würde wertvolle Kräfte anderer Völker in der Niederhaltung dieser Irredenta erschöpfen.

Das Demokratische Deutschland (1945): Grundsätze und Richtlinien für den deutschen Wiederaufbau im demokratischen, republikanischen, föderalistischen und genossenschaftlichen Sinn.

[…]

Erläuterungen

[…]

Da wir Demokraten, Republikaner, Föderalisten und Sozialisten mithelfen wollen, einen wirklichen dauerhaften Frieden zu begründen, erklären wir offen, daß das künftige Friedenswerk nicht ohne die tätige Hilfe des vom Nazismus gereinigten deutschen Volkes gesichert werden kann. Man kann mit militärischen Maßnahmen und strategischen Grenzziehungen eine Zeit lang Kriege vermeiden. Wirklicher Friede, den die gewissenhaften Menschen aller Nationen, auch des deutschen Volkes, herbei führen wollen, ist nur als gerechter Friede erzielbar.

Wir geben uns Rechenschaft davon, daß von verschiedenen Gesichtspunkten aus Verschiedenes als gerecht erachtet werden kann. Es steht jedoch außer Zweifel, daß man, wenn die wirtschaftliche, politische, moralische und geistige Substanz und die biologische Lebensmöglichkeit des deutschen Volkes im Interesse Europas und der Welt erhalten bleiben soll, kein Friedenswerk erstreben darf, das der deutschen Jugend jede Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft nehmen würde. Was aber menschenwürdig ist, davon haben die Christen und Humanisten der europäischen Mitte keine andere Vorstellung als jene im europäischen Westen und auf dem amerikanischen Kontinent.

[…]

Die Einrichtung des Friedens in Deutschland ist eine Aufgabe des sittlichen, christlich-humanistischen Geistes. Wenn aber die Ermahnungen und Lehren der sittlichsten Geister durch Rachsucht und rein militärische Erwägungen - die angesichts der kommenden Weltsicherheitsorganisation nicht zu rechtfertigen sind, wenn man sie nur auf das deutsche Volk anwendet - schon im Keime erstickt werden, wer soll dann nicht an der Welt verzweifeln? Soll mit anderen Worten "Versailles" insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht nicht nur wiederholt, sondern in den Schatten gestellt werden?

Als bewährte Demokraten und Republikaner warnen wir vor einer verschärften Wiederholung eines solchen Friedenswerkes. Man wird vergeblich eine Jugend, die keine Hoffnung mehr hat, zu erziehen trachten. Sie wird zum Unheil Europas erneut den Mächten des Bösen verfallen. […]

Kommentar

Das Programm für ein demokratisches Deutschland beginnt mit einigen Klarstellungen, sogenannten assertiven Sprechakten, die mit direktiven Sprechakten, hier Forderungen, kombiniert werden. Das deutsche Problem ist dabei genau wie das europäische Problem als abstrakter Überbegriff nicht nur für die aktuelle Kriegslage, sondern auch für die tieferliegenden ideologischen (in Bezug auf Deutschland: nationalsozialistischen) und jahrhundertelangen europäischen Animositäten zu verstehen. Dass beide Probleme nur gemeinsam gelöst werden können wird klargestellt. Der Topos Deutschland in Europa/Europa mit Deutschland zieht sich als roter Faden durch den Text. Die geforderten Bedingungen, dass die „berechtigten Ansprüche aller Nationen auf Wiederherstellung und Sicherheit“ erfüllt werden müssen und Maßnahmen gegen „die Wiederholung eines europäischen Krieges“ zu treffen sind für die „Neugestaltung Europas und eine Lösung des deutschen Problems“, wird gefolgt von einer Konzession. Es wird aber nicht die Kriegsschuld eingestanden – diese liegt bei Hitler –, sondern die Verantwortung des deutschen Volks, die Folgen zu tragen, um dann wieder mit einem betonenden „Und doch“ wieder auf die Abhängigkeit der „deutschen“ und der „europäischen Frage“ hinzuweisen. Hier wurde auch das Problem zur Frage euphemisiert. Die Vorbedingung jeder Lösung sei die „Besiegung des Nationalsozialismus“ in Bezug auf Personen und Persönlichkeiten sowie in Bezug auf die durch den Nationalsozialismus ideologische Prägung, womit wiederum die Schuldfrage aufgegriffen und der Nationalsozialismus als scheinbar geschlossene Einheit angesehen und als Kern des Problems aufgefasst wird. Die antizipatorische Zeitkonzeption am Ende soll die vorigen Erläuterungen legitimieren, denn es „wäre verhängnisvoll für die Zukunft Europas, wenn Deutschland […] zerrissen würde.“ Es werden konkretere Folgen zur Stützung des Arguments genannt, wie der „fruchtbare[] Nährboden für pan-germanistische Bewegungen“ und die Entstehung der „größte[n] nationalsozialistischen Irredenta“, die, so wird verstärkend behauptet, auch „wertvolle Kräfte anderer Völker“ in ihrer Bekämpfung erschöpfe. Der selbstbestimmte und eigenverantwortliche Wiederaufbau Deutschlands wird damit auch nochmals zum Schluss für ganz Europa als wichtig deklariert.

Die Grundsätze und Richtlinien für den deutschen Wiederaufbau im demokratischen, republikanischen, föderalistischen und genossenschaftlichen Sinn sind bereits im Titel ideologisch gebunden. In den Erläuterungen wird die politisch fokussierte Selbstidentifizierung und -gruppierung wiederholt. „Demokraten, Republikaner, Föderalisten und Sozialisten“ drücken ihre Absicht aus, „einen wirklichen dauerhaften Frieden zu begründen“, der gleich zum vorigen Quelltext nur mit dem „vom Nazismus gereinigten deutschen Volk[] gesichert werden kann.“ Auch hier wird die Schuld für den Krieg dem ideologischen Konstrukt des Nazismus zugeschrieben. Und auch hier wird vor den Folgen von „militärischen Maßnahmen und strategischen Grenzziehungen“, die keinen „wirkliche[n] Frieden“, keinen „gerechte[n] Frieden“ schaffen, gewarnt. Die Warnung dient dabei als Legitimationsstrategie für die Beteiligung des „deutschen Volkes“, das ebenso wie die „gewissenhaften Menschen aller Nationen“ den Willen zum Frieden habe. Die Relativität von Gerechtigkeitsverständnissen wird zugestanden, aber darauf wird auch hier wieder mit einem betonenden „Es steht jedoch außer Zweifel“ die Relevanz hervorgehoben, dass Deutschland bei der Schaffung von Frieden beteiligt werden solle. Es darf „kein Friedenswerk“ erstrebt werden, „das der deutschen Jugend jede Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft nehmen würde.“ Im Gegensatz zu der relativen Gerechtigkeit wird dann in der Erläuterung von Menschenwürdigkeit Gemeinsamkeit gesucht, denn die „Christen und Humanisten der europäischen Mitte [haben davon] keine andere Vorstellung als jene im europäischen Westen und auf dem amerikanischen Kontinent.“ Indem auf gemeinsame Wertvorstellungen referiert wird, versuchen sich die diesen Texten verfassenden Personen an die Adressaten anzunähern. Diese gemeinsamen Wertvorstellung werden auch zur Grundlage und zum Ausgangspunkt der „Einrichtung des Friedens in Deutschland“ deklariert. Die darauffolgende Warnung vor „Rachsucht und rein militärische[n] Erwägungen“ schließt mit zwei rhetorischen Fragen. Die erste soll die aus der genannten Rachsucht folgende Verzweiflung nachvollziehbar machen und die zweite konkretisiert die Gefahren dieser möglichen Verzweiflung, indem auf den Versailler Vertrag nach dem ersten Weltkrieg verwiesen und gleichzeitig eine kausale Kette von diesem Vertrag bis zum aktuellen Zeitpunkt impliziert wird. Der letzte Abschnitt wiederholt nochmal die zu Beginn bereits ausgeführte Selbstidentifizierung als „Demokraten und Republikaner“. Diese warnen nun explizit vor der „verschärften Wiederholung eines solchen Friedenswerkes.“ Die Warnung wird auch hier wieder mit antizipierten Folgen legitimiert, die in diesem Text „eine Jugend, die keine Hoffnung mehr hat“ in den Fokus rückt und die ob dieser Hoffnungslosigkeit „zum Unheil Europas erneut den Mächten des Bösen verfallen“ würde. Ähnlich wie im ersten Quelltext werden auch hier zur Bekräftigung des Arguments die Folgen für ganz Europa benannt.

Literaturverzeichnis

Primärquellen:

Council for a Democratic Germany (2000) [03. Mai 1944]: Programm für ein demokratisches Deutschland. In: Die Ordnung des Staates und die Freiheit des Menschen. Deutschlandpläne im Widerstand und Exil. Hrsg. von Gerhard Ringshausen und Rüdiger von Voss. Bonn: Bouvier. S. 344–348.

Das Demokratische Deutschland (2000) [Mai 1945]: Grundsätze und Richtlinien für den deutschen Wiederaufbau im demokratischen, republikanischen, föderalistischen und genossenschaftlichen Sinn. In: Die Ordnung des Staates und die Freiheit des Menschen. Deutschlandpläne im Widerstand und Exil. Hrsg. von Gerhard Ringshausen und Rüdiger von Voss. Bonn: Bouvier. S. 357–372.

Sekundärliteratur:

Kämper, Heidrun (2005): Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945. Berlin/New York: de Gruyter (= Studia Linguistica Germanica 78).

Kämper, Heidrun (2012): 1945 – Der Schulddiskurs als Generationenphänomen. In: Sprache der Generationen. Hrsg. von Eva Neuland. Mannheim/Zürich: Dudenverlag (= Thema Deutsch 12). S. 145-166.

Spitzmüller, Jürgen/Warnke, Ingo H. (2011): Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse. Berlin/Boston: de Gruyter.