November 2019

November 1938

Nach dem Novemberpogrom werden Juden zur „Schutzhaft“ ins KZ gebracht, Baden-Baden, November 1938

Alle nachfolgenden Zitate beziehen sich auf dasselbe Ereignis, die Pogrome des 9./10. Novembers 1938. Sie wurden, vermutlich ursprünglich aus dem Berliner Volksmund stammend, zunächst mit "Reichskristallnacht" bezeichnet. Weitere Bezeichnungen sind „Judenpogrom“, „Pogromnacht“, „Pogromaktion“ u.a. Nach einer langen und bis heute nicht abgeschlossenen Diskussion um die angemessene Bezeichnung, die nicht verharmlosen sollte (wie „Reichskristallnacht“) und die auch deutlich machen sollte, dass es sich bei den Gewaltakten nicht nur um wenige Stunden in der Nacht des 9. Novembers handelte, hat sich „Novemberpogrome“ inzwischen durchgesetzt (http://www.ashkenazhouse.org/kndefger.htm; Zugriff 16.10.2019). 

Die Zitate verdeutlichen ein zentrales Prinzip unserer Kommunikation: Wirklichkeit entsteht durch Sprache und ist geprägt von der Perspektive des- oder derjenigen, der oder die spricht: von jeweiligen Lesarten, von jeweiligem Wissen, von Absichten, die mit einer bestimmten Art der Bezugnahme auf einen Sachverhalt erreicht werden sollen. Eine besondere Funktion hat dieses Prinzip, das generell unsere Verständigung bestimmt, wenn es sich um eine bewusste Steuerung der Wirklichkeitswahrnehmung handelt.

Quellentext

„In Kassel und Dessau große Demonstrationen gegen die Juden, Synagogen in Brand gesteckt und Geschäfte demoliert. Nachmittags wird der Tod des deutschen Diplomaten vom Rath gemeldet. Nun aber ist es gut. Ich gehe zum Parteiempfang im alten Rathaus. Riesenbetrieb. Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig. Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei.“ (Joseph Goebbels. Tagebücher. Band 3: 1935-1939, S. 1281; Eintrag 10. November 1938)

„‚Um zwei Uhr nachts haben sie den Sohn unserer Wirtin aus dem Bett geholt. Befehl vom SA-Sturm. Sofort antreten. Natürlich war’s die SA. Wer soll es sonst gewesen sein?‘ – .. ‚Ich hab's mit eigenen Augen gesehen, wie sie die Kleiststraße entlangmarschierten. Haufenweise. Das war organisiert, sage ich euch! Das war gesteuert! Da hat ein Rädchen ins andere gefaßt. Unterdessen lag das Volk in den Federn und schlief den Schlaf der Gerechten.‘“ (Ruth Andreas-Friedrich: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945. S. 31; Eintrag vom 10.11.1938) 

„Während in der Zeit vom 1.1. bis 8.11.1938 versucht wurde, die Judenschaft durch Gesetze und Verordnungen endgültig aus sämtlichen deutschen Lebensgebieten auszuschließen, wurde die völlige Ausschaltung der Juden aus allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens durch die Aktion vom 9./10.11.1938 praktisch verwirklicht.“ (Meldungen aus dem Reich; Jahreslagebericht 1938 des Sicherheitshauptamtes Band I, S. 21)

„die Strasse war am 10. November .. beherrscht von der S.S., von der S.A. und der Hitler-Jugend. Mit ihren Keulen, Bomben und Benzinkannen. Wer die Strasse mit derart absoluter Gewalt beherrscht, wird ihr immer ein gutes Stück seines eigenen Charakters aufprägen.“ (Konrad Heiden: Eine Nacht im November 1938. 3. Aufl. 2013, S. 93)

„[Ich] mache mich auf den Weg in die Klinik. Komisch, so viele Glassplitter auf der Straße! In dem .. Modegeschäft sind ja sämtliche Scheiben eingeschlagen, die Schaukästen leer. Auch im nächsten Geschäft .. ist es das gleiche. Was haben sie bloß wieder gemacht?, denke ich. .. ½ 10 Uhr abends. Es klingelt zweimal kurz und scharf hintereinander. Ich gehe an die Tür: ‚Wer ist da?‘ – ‚Aufmachen! Kriminalpolizei!‘ Ich öffne zitternd, und weiß, was sie wollen. ‚Wo ist der Herr Doktor?‘ – ‚Nicht zu Hause‘, sage ich. – ‚Was? Die Portierfrau hat ihn doch nach Hause kommen sehen.‘ – ‚Er war zu Hause, aber er ist wieder weggerufen worden.‘ .. Sie gehen an die nächste Tür. ‚Bitte nicht rütteln‘, sage ich. „Hier schläft mein Kind.‘ – ‚Den jüdischen Dreh kennen wir.‘ Und – mir den Revolver unter die Nase haltend – ‚noch ein Wort, und die Kugel sitzt Ihnen im Hirn. Wo haben Sie Ihren Mann versteckt?‘ Meine Knie zittern. Nur ruhig bleiben, ruhig bleiben, sage ich zu mir selber. .. sie gehen mit meinem Mann. Ich renne ihnen nach auf die Straße. ‚Wohin mit meinem Mann, was ist mit meinem Mann?‘ Brutal stoßen sie mich zurück. ‚Morgen auf dem Alexanderplatz können Sie ja nach ihm fragen.‘ Und ich sehe, wie sie in ein Auto steigen und davonfahren mit meinem Mann in die dunkle Nacht.“ (Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933-1945. Eintrag 10.11.1938, S. 120-124)

Kommentar

Mit einem solchen Steuerungsversuch haben wir es im Fall der Novemberpogrome des Jahres 1938 zu tun.

Seitens des NS-Regimes sollten die Novemberpogrome 1938 als „spontaner Volkszorn“ wahrgenommen werden. Mit diesem Propagandaeffekt sollten weitere antisemitisch-rassistisch motivierte Maßnahmen legitimiert werden. Diese Lesart dokumentiert der Tagebucheintrag von Goebbels. Da das Tagebuch zur Veröffentlichung bestimmt war, gibt er mit seinem Eintrag zum 10. November 1938 diese offizielle Lesart vor, das Leitwort ist Volkszorn, das viele weitere Sprachdokumente aufnehmen. Diese Wirklichkeitskonstruktion ist der Versuch einer Täuschung.

Die entgegengesetzte Lesart – nämlich die, dass die Pogrome geplant (organisiert, gesteuert) und von SA und SS ausgeführt wurden – vermittelt der kurze Dialog unter Journalisten-Kollegen, den die Dissidentin Ruth-Andreas Friedrich in ihrem Tagebuch widergibt. In diesem Text lässt sich erkennen, dass bereits die kritischen Zeitgenossen den mit Volkszorn bezeichneten Täuschungsakt als solchen erkannten. Das Volkszorn-Konstrukt des NS wird nicht akzeptiert, der Täuschungsversuch ist gescheitert

Der Bericht des Sicherheitsdienstes der SS bestätigt durch den Gebrauch des Ausdrucks Aktion, dass die Novemberpogrome geplant und organisiert waren. Diesen Ausdruck Aktion verwendeten die Nationalsozialisten häufig zur Bezeichnung geplanter und organisierter Maßnahmen (Aktion Erntefest, Aktion Reinhard, Aktion T 4). Die im Zuge der Novemberpogrome verhafteten Juden wurden Aktionsjuden (vgl. Broszat, Martin, Hans-Adolf-Jacobsen, Helmut Krausnick (1982): Anatomie des SS-Staates. Band 2. 3. Aufl.: München, S. 277) genannt. Der Ausdruck Aktion hat dabei stets die Funktion eines Euphemismus, also die einer sprachlichen Verschleierung der tatsächlichen Vorgänge.

Eine weitere Wirklichkeitssicht ist die der Opfer. Konrad Heiden, Sozialdemokrat, dessen Mutter aus einer jüdischen Familie stammte, benennt die ausführenden Akteure explizit und bestätigt mit dieser sprachlichen Identifizierung der handelnden Personen die Lesart ‚geplante Verfolgungs- und Zerstörungsakte des NS-Regimes und der NSDAP‘. Auf das Gewaltpotenzial dieser Akte verweist Heiden mit der Herausstellung der verwendeten Waffen.

Während die Bezugnahme aus der Opferperspektive zwar von einem Betroffenen, nicht aber von einem Augenzeugen stammt (Heiden lebte seit 1933 im Exil), der der Gewalt unmittelbar ausgesetzt war, lässt sich aus dem Tagebucheintrag der jüdischen Ärztin Hertha Nathorff die Wirklichkeitskonzeption einer Person ableiten, die den 9. November physisch und konkret erlebt hat. Zunächst nimmt sie angesichts der Zerstörung auf der Straße das Geschehen mit eher geringem emotionalen Anteil wahr, nämlich mit Verwunderung (was haben sie bloß wieder gemacht?). Angst, von ihr ausgedrückt mit zitternd, meine Knie zittern, ist in dem Moment die Gefühlslage, die sie beherrscht, als Gewalt ihr körperlich nahekommt. Diese Gewalt erfährt sie spätabends in ihrer Wohnung, als sie von „Kriminalpolizei“ aufgesucht wird. In wörtlicher Rede gibt Hertha Nathorff die Gesprächssequenzen wider, schildert die Drohgebärde desjenigen, der ihr „den Revolver unter die Nase hält“, referiert auf ihr Inneres. Damit stellt sie die Nähe her, die zeitgenössische Zeitzeugenberichte zu einem authentischen Dokument machen. Sprachlichen Wert hat ein Bericht wie dieser, weil er einen zentralen Beitrag zu dem Aspekt ‚Sprache und Emotion‘ darstellt, der für die Jahre 1933 bis 1945 hohe Evidenz hat: Auf unterschiedlichen Akteursebenen – von den frühen Nationalsozialisten und ihrer Begeisterung für die NSDAP bis hin zu den terrorisierten Opfern und ihrer Todesangst vor der Gestapo und der SS – repräsentiert der Ausdruck von Emotionen einen in der Diktatur wesentlichen Wirklichkeitsausschnitt.