Mai 2020

Mai 1933. Die Bücherverbrennungen 1933

Bücherverbrennung auf dem Opernplatz in Berlin am 10. Mai 1933

Am 10. Mai 1933 wurden, als Höhepunkt einer vierwöchigen Hetzkampagne, in Deutschland wieder Bücher verbrannt – ein eingeführter Ritus mit einer langen Tradition, der die Zerstörung von Geist und Mensch zum Ziel hat. Der Holocaust ist die letzte Konsequenz.
„Aktion wider den deutschen Geist“ wird dieses von der „Deutschen Studentenschaft“ an zwanzig deutschen Universitäten initiiertes und in Berlin von Propagandaminister Goebbels durch seine sog. „Feuerrede“ unterstütztes Fanal genannt. Die Initiatoren bezogen sich auf die Bücherverbrennung auf dem Wartburgfest 1817, wo für „undeutsch“ gehaltene Schriften symbolisch verbrannt wurden (soll heißen: nicht die Bücher selbst, sondern Papierbündel mit dem Titel als Aufschrift).
Rituelle Handlungen wie Verbrennungen bedürfen der sprachlichen Begleitung, um ihre Funktion ganz zu erfüllen, nämlich Pathos, Feierlichkeit und Dramatik zu erzeugen. Insofern stellen die symbolischen sprachlichen und nichtsprachlichen Akte die Inszenierung einer multimedialen Performance dar.

Quellentext

Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky.

Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner.

Gegen Gesinnungslumperei und politischen Verrat, für Hingabe an Volk und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Friedrich Wilhelm Förster.

Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud.

Gegen Verfälschung unserer Geschichte und Herabwürdigung ihrer großen Gestalten, für Ehrfurcht vor unserer Vergangenheit! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Emil Ludwig und Werner Hegemann.

Gegen volksfremden Journalismus demokratisch-jüdischer Prägung, für verantwortungsbewusste Mitarbeit am Werk des nationalen Aufbaus! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Theodor Wolff und Georg Bernhard.

Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkrieges, für Erziehung des Volkes im Geist der Wahrhaftigkeit! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Erich Maria Remarque.

Gegen dünkelhafte Verhunzung der deutschen Sprache, für Pflege des kostbarsten Gutes unseres Volkes! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Alfred Kerr.

Gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist! Verschlinge, Flamme, auch die Schriften der Tucholsky und Ossietzky!

Kommentar

Acht der neun sog. „Feuersprüche“, jeder von einem anderen „Rufer“ gesprochen, sind nach einem einheitlichen Muster formuliert:

1 Nennung des Handlungsmotivs
2 Nennung des Handlungsziels
3 Nennung der Handlung und des Handlungsobjekts

Während die syntaktisch elliptischen und daher paroleartig wirkenden Aussagen von 1 und 2 sozusagen die Legitimationsbasis der Handlung schaffen, hat der die physische Handlung begleitende performative Akt Konklusionscharakter.

Die an Position 1 genannten Sachverhalte sind stilistisch unterschiedlich nominiert und reichen von der ideologischen Markierung (Klassenkampf, Materialismus) über eine deontisch negative (Dekadenz, moralischen Verfall) und denunzierende (Gesinnungslumperei, Verrat, Verfälschung, Herabwürdigung, dünkelhafte Verhunzung, Frechheit und Anmaßung) Bewertung, bis zu rassistischen Exklusionsvokabeln (volksfremd, demokratisch- jüdische).

Dieser, mit gegen markierten nationalsozialistisch interpretierten „Realität“ wird an Position 2 die Konstruktion einer jeweils mit für eingeführten Welt als Wille und Vorstellung gegenübergestellt, die dem System der NS-Deontik entspricht. Sie wird repräsentiert mit der zentralen inkludierenden Leitvokabel Volksgemeinschaft, mit der Einforderung bestimmter Haltungen (Hingabe, Ehrfurcht) und Handlungen (verantwortungsbewusste Mitarbeit, Pflege).

Indem der Status der benannten Sachverhalte jeweils mit gegen bzw. für ausgedrückt wird, bilden sie das Schema von These und Gegenthese, sodass Gesinnungslumperei und politischen Verrat einerseits, Hingabe an Volk und Staat andererseits Gegensätze bilden, seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens einerseits und Adel der menschlichen Seele andererseits in Opposition zueinander gesetzt werden, volksfremden Journalismus demokratisch-jüdischer Prägung einerseits und verantwortungsbewusste Mitarbeit am Werk des nationalen Aufbaus andererseits einander widersprechen, literarischer Verrat am Soldaten des Weltkrieges einerseits und Erziehung des Volkes im Geist der Wahrhaftigkeit andererseits sich ausschließen. 

Der letzte, neunte Spruch, weicht hinsichtlich der Nomination von Handlungsmotiv, Handlungsziel und Handlung ab. Mit Frechheit und Anmaßung sowie mit Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist werden wenig spezifizierte, dafür in dieser Allgemeinheit umso umfassendere Sachverhalte benannt. Auch der Feuerspruch ist ein anderer: Er ist nicht mehr durch einen explizit performativen Akt, sondern appellativ realisiert, die Handlungsbezeichnung verschlinge benennt den exterminatorischen Effekt der Tat, auch die Handlungsobjekte sind verallgemeinert, indem die Namen (Tucholsky und Ossietzky) mit dem Artikel in den Plural gesetzt sind. Mit diesen Abweichungen des zuvor acht Mal wiederholten Musters erfährt das Ende dieser Verbrennungsaktion einen besonderen, die Performance akzentuierenden Abschluss.

Nachtrag

In einem Zeitungsaufruf vom 12. Mai 1933 verlangt Oskar Maria Graf in dialektischer Manier: Verbrennt mich! (erschienen in der Wiener Abendzeitung). Dass sein Name und seine Werke, bis auf eines, nicht durch die Aktion „Wider den deutschen Geist“ der Vernichtung durch die Nazis anheim gegeben wurden, dass sein Name vielmehr auf ihrer „Weißen Liste“ erscheint, versteht er als einen Akt der Akzeptanz seines Namens und Werks bei den Nationalsozialisten: [Ich] stehe .. auf der "weißen Autorenliste" des neuen Deutschlands, und alle meine Bücher, mit Ausnahme meines Hauptwerkes „Wir sind Gefangene“, werden empfohlen: Ich bin also dazu berufen, einer der Exponenten des "neuen" deutschen Geistes zu sein! Während die Nationalsozialisten auf den Empörung auslösenden Akt der Verbrennung setzen, bewirkt das Nichtverbranntwerden bei Graf eben diese Empörung: Womit habe ich diese Schmach verdient? Er will auf die Schwarze Liste, auf die Liste, auf der das Schrifttum von Bedeutung aufgeführt ist, er will zu denjenigen gehören, die sich das „Dritte Reich“ zu Feinden erklärt hat, zur wirklichen deutschen Dichtung, zu den wesentlichsten Schriftsteller, die der NS ins Exil gejagt und das Erscheinen ihrer Werke in Deutschland unmöglich gemacht hat. Im Zuge einer Art Begriffsanalyse konstituiert Graf deutsch und Nationalismus als sich ausschließende Begriffe. Ein Nationalismus, auf dessen Eingebung selbst die geringste freiheitliche Regung unterdrückt wird, ein Nationalismus, auf dessen Befehl alle meine aufrechten sozialistischen Freunde verfolgt, eingekerkert, gefoltert, ermordet oder aus Verzweiflung in den Freitod getrieben werden steht im Gegensatz zu deutsch. Diese Erkenntnis lässt Graf verzweifelt seinen Status als von den Nazis Aufgenommenen feststellen: die Vertreter dieses barbarischen Nationalismus, der mit Deutschsein nichts, aber auch rein gar nichts zu tun hat, unterstehen sich, mich als einen ihrer "Geistigen" zu beanspruchen, mich auf ihre so genannte "weiße Liste" zu setzen, die vor dem Weltgewissen nur eine schwarze Liste sein kann! Diese Unehre habe ich nicht verdient! Graf dagegen verlangt die ihn ehrende Vernichtung: dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbande gelangen. Auch er fokussiert, wie die Nazis, das reinigende Moment, das Purgatorium des Feuers.
Graf kehrt mit diesem Text, der sich in dem Aufruf Verbrennt mich! verdichtet, die Funktion der Feuersprüche um: Aus Sicht der Nazis bedeutet die Inszenierung einen performativen Akt des rituell vollzogenen Ausschlusses, der weihevollen Vernichtung. Graf reklamiert diesen Ausschluss und diese Vernichtung und deutet sie als Anerkennung seines literarischen Rangs und vor allem wohl seiner gegnerischen politische Position.  

Literaturverzeichnis

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2007): Bücherverbrennungen seit der Frühen Neuzeit. www.bundestag.de/resource/blob/414316/cffc968c4a74d3af1d60cc36de88a7ad/wd-1-106-07-pdf-data.pdf (letzter Zugriff: 21.5.2021).