Februar 2020

27. Februar 1933

Der brennende Reichstag am 27/28. Februar 1933

Es gibt in den Jahren 1933 bis 1945 eine Reihe von Ereignissen, die hinsichtlich der Art und Weise, wie die unterschiedlichen Beteiligten sprachlich mit ihnen umgehen, kennzeichnend ist. Betrachtet als sprachliches Handeln lässt sich dieser sprachliche Umgang als Handlungsfolge im Sinn von TÄUSCHUNG und ENTLARVUNG beschreiben. Seitens des Regimes wird ein auch sprachlich großer Aufwand betrieben, um die Bevölkerung über wahre Absichten, Vorgänge oder Sachverhalte zumindest im Ungewissen zu lassen (s. Euphemismen, Presseanweisungen, Sprachregelungen), während die Bevölkerung – offenbar grundsätzlich misstrauisch – oftmals durch Benennungen des aus ihrer Sicht „wahren“ Sachverhalts die Absichten entlarvt. So war vielen bewusst, dass bestimmte Maßnahmen, die das Regime im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen 1936 getroffen hat, etwa Aussetzen der Diskriminierungen von Juden, Entfernen judenfeindlicher Schriften im öffentlichen Raum, Zulassen der Jüdin Helene Mayer zu den Spielen etc., lediglich eine Art Imagearbeit des Regimes war. Es wurde (zu Recht) damit gerechnet, dass nach dem Ende der Spiele der totalitäre Staat wieder in jeder Hinsicht die Lebensbedingungen bestimmen würde. Auch die Novemberpogrome von 1938 lassen sich als TÄUSCHUNG und ENTLARVUNG beschreiben: Die TÄUSCHUNG bestand in der vom NS-Regime verbreiteten Lesart, es habe sich um die Entladung des sog. „Volkszorns“ gehandelt, während die Zeitgenossen auf die Pogrome als ein planvolles Vorgehen von SA, SS und Hitlerjugend Bezug nahmen (s. Beleg des Monats November 2019).

So lässt sich auch die Kommunikation über den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 beschreiben. Vom Regime sprachlich als 'Terrorakt' der Kommunisten inszeniert, wurde diese Version als Täuschungsversuch angezweifelt und im Sinn einer Entlarvung von einer von den Nazis selbst initiierten Handlung konstruiert. Im Unterschied zu den oben erwähnten Beispielen ist jedoch in diesem Fall historisch nicht entschieden, welche der Versionen zutrifft. Evidenzen gibt es für beide Erklärungsvarianten.

Aus sprachgeschichtlicher Sicht ist der Reichstagsbrand ein Ereignis, das z.B. textsortengeschichtlich (etwa in Bezug auf die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“) und z.B. hinsichtlich der Konstituierung des Ereignisses im Sinn einer Entlarvung durch den NS-kritischen Diaristen Harry Graf Kessler beschreibenswert ist.

Quellentext

NORMIERUNG

Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat. Vom 28. Februar 1933.

Auf Grund des Artikels 48 Abs. 2 der Reichsverfassung wird zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte folgendes verordnet:

§ 1

Die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der Verfassung des Deutschen Reichs werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig.

ENTLARVUNG

Harry Graf Kessler, Tagebucheintrag Berlin. 28. Februar 1933:

Beim Reichstagsbrand ist als Brandstifter ein armer Hascher, ein angeblicher holländischer Kommunist, Marinus van der Lubbe, festgenommen worden und hat prompt ausgesagt, er sei von kommunistischen Abgeordneten zu der Tat angestiftet worden; auch mit der SPD habe er in Verbindung gestanden. Dieser etwa Zwanzigjährige soll an mehr als dreißig Stellen im Reichstag Brandmaterial verteilt und angesteckt haben, ohne daß seine Anwesenheit oder Tätigkeit oder die Hereinschaffung dieses massenhaften Materials von irgendjemandem bemerkt worden sei. Schließlich ist er der Schupo direkt in die Arme gelaufen, nachdem er vorsorglich alle seine Kleidungsstücke bis auf seine Hose ausgezogen und im Reichstag deponiert hatte, damit ja nicht durch irgendein Versehen seine Identifizierung mißglücken könnte. Er soll sogar mit der Fackel aus dem Fenster gewinkt haben.

Göring hat sofort die ganze Kommunistische Partei des Verbrechens für schuldig und die SPD für mindestens verdächtig erklärt und diese vom Himmel gebotene, einzigartig günstige Gelegenheit ergriffen, um die ganze kommunistische Reichstagsfraktion, Hunderte oder gar Tausende von Kommunisten in ganz Deutschland verhaften zu lassen und die ganze kommunistische Presse auf vier Wochen, die ganze sozialdemokratische auf vierzehn Tage zu verbieten. Die Aktion mit Verhaftungen, Verboten, Haussuchungen, Schließung von Verkehrslokalen geht munter ins Unabsehbare weiter. Göring hält dazu blutrünstige Reden, die stark nach „Haltet den Dieb“ klingen.

[…] dieses so überaus opportune Attentat mit den anschließenden Verhaftungen usw. […] Niemand, den ich gesprochen habe, glaubt an eine »kommunistische Brandstiftung«. […]

Kommentar

Bereits einen Tag nach der Tat hat Reichspräsident Hindenburg die Verordnung erlassen. Es ist ein Normtext mit entsprechenden Textsortenmerkmalen:

  • Es wird die Funktion („Verordnung“) und der Urheber („Reichspräsident“) genannt.
  • Es wird der Zweck der Verordnung genannt. „Schutz von Volk und Staat“, „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“).
  • Seine Entstehungszeit wird datiert.
  • Er enthält eine bindende Regel, die deshalb rechtlich gültig ist, weil sie vom Reichspräsidenten erlassen wurde.
  • Er deklariert die Außerkraftsetzung von bisher geltenden Artikeln der Reichsverfassung.
  • Er deklariert die Zulässigkeit bestimmter Beschränkungen.

Insbesondere die zweimalige Nennung des Zwecks macht deutlich, dass auch Gesetze und auch Gesetze in der Diktatur zustimmungsfähig sein müssen. Um dies zu erreichen, wird die Aufmerksamkeit der Rezipienten bzw. Adressaten auf den Zweck gelenkt: Er wird sprachlich einerseits deontisch positiv, andererseits deontisch negativ kodiert. Die Kodierung „Schutz von Volk und Staat“ und „Abwehr“ benennt ein Handeln, das Vertrauen herstellt, während die Formel „kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ das Handlungsmotiv im Sinn einer existenziellen Gefahr kodiert. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, die Einschränkungen, die im nachfolgenden Text benannt werden, zu akzeptieren.  

Während das Regime unverzüglich handelt, indem es innerhalb von 24 Stunden einen gesetzlichen Rahmen schafft, richtet Harry Graf Kessler seine Aufmerksamkeit auf den Täter und auf die Umstände der Tat.

Bereits die Zuschreibungen, die Kessler verwendet, drücken seine Zweifel an der Täterschaft van der Lubbes aus: Bedeutungslosigkeit („armer Hascher“, „etwa Zwanzigjährige“), Unaufrichtigkeit („hat prompt ausgesagt“), gezieltes Hinterlassen von Spuren („Kleidungsstücke .. deponiert“) und Aufmerksammachen („mit der Fackel aus dem Fenster gewinkt“).

Die Ausführung der Tat durch einen Einzeltäter zweifelt Kessler an, indem er die Anzahl der Brandstellen herausstellt („mehr als dreißig Stellen“), ebenso drückt er Unglaubwürdigkeit aus („ohne daß .. bemerkt worden sei“). 

Nachdem Kessler mit diesen wertenden Bezugnahmen auf Täter und Tat seine Position als Gegner und Zweifler angedeutet hat, markiert er dann seine Haltung in Bezug auf die politischen Umstände: Im Sinn von ENTLARVUNGSakten ironisiert er den Reichstagsbrand („vom Himmel gebotene, einzigartig günstige Gelegenheit“, „dieses so überaus opportune Attentat“), begründet die ENTLARVUNG mit den anschließenden, dem Regime aus politischen Gründen höchst willkommenen Maßnahmen („Aktion mit Verhaftungen, Verboten, Haussuchungen […]“) und bestätigt seine Lesart mit einem Verweis auf den Diskurs („Niemand glaubt an eine ‚kommunistische Brandstiftung‘.“)

Literaturverzeichnis

Dietrich Busse (2000): Textsorten des Bereichs Rechtswesen und Justiz. In: Gerd Antos / Klaus Brinker / Wolfgang Heinemann / Sven F. Sager (Hrsg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft) Berlin/New York: de Gruyter. S. 658 – 675.

Steven McCornack (2014): Discovered Deception, Reactions to. In: Encyclopedia of Deception. Volume 1. Edited by Timothy R. Levine. Los Angeles u.a.: Sage Reference. S. 291-293.

Marcus Giebeler (2010): Die Kontroverse um den Reichstagsbrand. Quellenprobleme und historiographische Paradigmen. München: Martin Meidenbauer.