April 2021

"Volksgemeinschaft": Popularisierung eines nationalsozialistischen Leitkonzepts

Generalappell der NSDAP in der Berliner Deutschlandhalle am 23. März 1938

Über kaum ein anderes nationalsozialistisches Konzept wurde in jüngerer Zeit so intensiv diskutiert wie über ‚Volksgemeinschaft‘. In den letzten zehn Jahren hat ein bedeutender Strang der NS-Forschung verschiedene in- und exkludierende Praktiken der Herstellung von ‚Volksgemeinschaft‘ in den Fokus gerückt, ohne davon auszugehen, dass die ‚Volksgemeinschaft‘ nach nationalsozialistischen Vorstellungen jemals existiert hat (vgl. Wildt 2014; Schmiechen-Ackermann u.a. 2018). Wiederholt wurde hierbei dafür plädiert, den zeitgenössischen Verwendungsweisen des Konzepts eine größere Aufmerksamkeit zu schenken. Zwar ist dessen Rolle als Verheißungs- und Legitimationskonzept innerhalb der nationalsozialistischen Propaganda unumstritten, die Dimensionen des Konzepts in seinen unterschiedlichen Verwendungskontexten sind jedoch erst unzureichend untersucht.

Im Folgenden wird exemplarisch eine Belegstelle in den Blick genommen, die aus der Frühzeit der nationalsozialistischen Herrschaft stammt (April 1934). In dieser Phase ging es darum, die nationalsozialistische Aufladung geläufiger Konzepte zu verbreiten (vgl. als Überblick über die Diskursgeschichte des Gemeinschaftskonzepts während der Weimarer Republik: Kämper 2020). Im „Völkischen Beobachter“, aber selbstverständlich auch in unzähligen anderen Zeitungen und Zeitschriften, Reden und Verlautbarungen, wurden Konzeptdeutungen popularisiert, die den Bürgerinnen und Bürgern eine nationalsozialistische Sichtweise ‚beibringen‘ sollten. Dass diese Deutungen widersprüchlich zur gesellschaftlichen Wirklichkeit waren, von vielen Zeitgenoss*innen nicht geglaubt und zum Teil auch entlarvt wurden, sollte nicht daran hindern, ihre sprachlichen Realisierungsformen zu analysieren.

Quellentext

Robert Müller: Volksgemeinschaft, in: Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, 1.-3. April 1934, S. 1-2:

 

„Volksgemeinschaft! Es könnte so banal erscheinen, über diesen uns heute so geläufigen Begriff zu sprechen. Ist uns aber wirklich der Begriff geläufig oder nur das Wort? Dieses Wort ist ja schon viele Jahre vor 1933 zu Tode gehetzt worden. Wir kennen alle gewisse bürgerliche Parteien, die mit diesem Wort jongliert haben. Wir wissen, dass es ihnen nur Phrase sein konnte, da ihrem seelenlosen Klassenstaat die Volksgemeinschaft etwas wesensfremdes war. Es waren dieselben Kreise, die mit prophetischem Pathos ausriefen: ‚Wenn der Nationalsozialismus ans Ruder kommt, dann haben wir das Chaos‘.

Sie ahnten nicht, dass gerade dieser Nationalsozialismus allein befähigt war, eine echte innerliche Gemeinschaft des Volkes aufzurichten.

[…]

Mancher Fernstehende wundert sich, ja sieht es mit einem gewissen Neid, wie der Nationalsozialismus sich gerade mit dem Arbeiter in bevorzugter Weise befasst. Das ist uns durchaus verständlich, wenn wir die Entwicklung der Stellung des Arbeiters im und zum Volke berücksichtigten. Der Arbeiter stand meist bewusst außerhalb und kalt ablehnend oder feindlich der früheren Gemeinschaft des Volkes gegenüber. Er musste in seiner überwiegenden Mehrheit dazu kommen, denn er wurde durch Jahrzehnte planmäßig zu dieser Haltung erzogen. […] Die Verhetzung wurde Selbstzweck, allenfalls das Mittel, eine schlagkräftige revolutionäre Truppe zu schaffen zur sogenannten Diktatur des Proletariats, in Wahrheit zur Diktatur marxistischer Führer. Tödlicher Haß gegen das Arbeitgerbertum, ohne Unterschied Haß gegen die Gemeinschaft des Volkes überhaupt. […]

So lagen die Verhältnisse, als der Nationalsozialismus sein Erlösungswerk am Arbeiter begann, als er 14 Jahre lang um diesen gründlichst verdorbenen, irregeleiteten, der Gemeinschaft entfremdeten Volksteil kämpfte. Wir können ermessen, wie hier die schwierigste, aber auch notwendigste Arbeit lag und liegt. Wir verstehen heute, weshalb der Nationalsozialismus seine Sorge ganz bevorzugt diesem Sorgenkind zuwenden musste. Es kam ja nicht nur darauf an und es lag es nicht um Geiste und Programm des Nationalsozialismus, nur die wirtschaftliche Lage des Arbeiters zu bessern, sondern es kam darauf an, seine Seele zu gewinnen und ihn, den Entwurzelten der völkischen Gemeinschaft einzuordnen. Es kam darauf an, den Stachel des Zweitklassigkeits-Gefühls herauszureißen, an die Stelle einer inneren Unsicherheit und ständigen sozialen Gereiztheit die Ausgeglichenheit eines sicheren, gesunden Selbstwertgefühls zu setzen. […]

Wir sehen hier ein grandioses Werk, die Organisation ‚Kraft durch Freude‘, das sich diese psychologische Aufgabe gestellt hat und sie auch lösen wird. Wir sehen, wie der Arbeiter durch die deutschen Lande geführt wird und ihm die Augen geöffnet werden für die Schönheiten seines Vaterlandes, das seine Verführer ihm verekelt haben. Wir sehen, wie er zu gemeinsamen Veranstaltungen geführt wird mit anderen Volksgenossen zusammen, zu denen er bisher nur eine gegensätzliche, feindliche Einstellung gekannt hat, zusammengeführt zu einem gegenseitigen Verstehen, Kennen- und Achtenlernen, zur Pflege einer echten Kameradschaft, wie sie wohl nur einmal, im großen Kriege, gelebt hat.

[…]

Die Erziehung und Schulung wird weiteres leisten, wird die gegenseitige Einschätzung nach Besitz, Rang und sogenannter Bildung beseitigen, wird die gegenseitige Achtung nach Persönlichkeitswerten, nach persönlicher Ehre lehren, wird immer und wieder predigen, dass nach einem alten Wort des Führers alle Schaffenden, ganz gleich, ob Arbeiter des Kopfes oder der Faust das Edelvolk unseres Staates, das deutsche Volk sind. Der Nationalsozialismus wird mit größter Strenge darüber wachen, dass nicht Gegenströmungen bösen Willens die Ausbreitung und Vertiefung seines Geistes im Volke stören.

Unser aller Pflicht aber ist es, durch praktisches Vorleben des nationalsozialistischen Geistes für diesen zu gewinnen und die Volksgenossen immer wieder zu veranlassen, sich mit den Schöpfungen und dem Geiste des Nationalsozialismus innerlich auseinanderzusetzen und sich in das Wesen dieses Geistes [unleserlich]. Nicht nur der Arbeiter der Faust braucht Zeit zur [unleserlich] Umstellung, auch der Arbeiter der Stirn. Denn Nationalsozialismus ist nicht Sache des Verstandes, sondern des Herzens. Der Verstand allein würde es manchmal leichter schaffen. Wir wollen nach des Führers Worten das Trennende zurückstellen, das Einigende hervorholen. Nur so, nicht anders können wir an der Erreichung eines [unleserlich] Gutes, wie es die Volksgemeinschaft ist, mit Erfolg arbeiten.“

Kommentar

Gleich zu Beginn des Artikels weist der Verfasser auf die Geläufigkeit des Wortes ‚Volksgemeinschaft‘ hin, differenziert dann aber zugleich sprachreflexiv – und mithilfe einer Suggestivfrage – zwischen dem „Wort“ und dem „Begriff“. Diese Differenzierung soll belegen, dass das Wort ‚Volksgemeinschaft‘ bereits vor der nationalsozialistischen ‚Machtergreifung‘ sehr oft, aber meist lediglich als „Phrase“, benutzt worden sei. In Wirklichkeit sei dem „seelenlosen Klassenstaat“ – eine pejorative Bezeichnung der Weimarer Republik – „die Volksgemeinschaft etwas wesensfremdes“ gewesen. Dem gegenübergestellt wird der Nationalsozialismus, der allein dazu befähigt sei, „eine echte innerliche Gemeinschaft des Volkes aufzurichten.“ Bereits in dieser einleitenden Passage wird offengelegt, dass es sich um den nationalsozialistischen Versuch handelt, einem überkommenen und verbreiteten „Wort“ seinen spezifischen – hier: nationalsozialistischen – Sinn zu geben und somit wieder zu einem „Begriff“ zu machen.

Was diesen „Begriff“ nach nationalsozialistischer Auslegung ausmacht, wird im weiteren Verlauf des Artikels in Form einer Narration expliziert, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst. In ihrem Mittelpunkt steht der „Arbeiter“, charakteristischerweise im Kollektivsingular benannt. Dieser habe in der Vergangenheit – so die Erzählung – außerhalb der „Gemeinschaft des Volkes“ gestanden, verführt durch „marxistische[…] Führer“. Er sei zum „Haß gegen die Gemeinschaft des Volkes“ erzogen wurde – eine typische antikommunistische Argumentation, die sich in Variationen immer wieder finden lässt. In diesen Verhältnissen habe der Nationalsozialismus „sein Erlösungswerk am Arbeiter“ begonnen. Neben dem pseudo-religiösen Vokabular ist hier die typische Darstellung der 14 ‚Kampfjahre‘ der nationalsozialistischen ‚Bewegung‘ während der Weimarer Republik hervorzuheben.

In diesem Zeitraum habe der Nationalsozialismus um das „Sorgenkind“ „Arbeiter“ gekämpft. Mit der wiederholten Einleitung „Es kam […] darauf an“ wird eine Kohärenz der Ausrichtung behauptet, „Volksgemeinschaft“ als soziales Inklusionsprojekt präsentiert.

In der nächsten Passage erfolgt der Perspektivenwechsel hin zur Gegenwart, prägnant gekennzeichnet durch die wiederholte Formulierung „Wir sehen“. Die Heranführung des „Arbeiters“ an die „Volksgemeinschaft“ wird in pathetischen Formulierungen als bereits erfolgreich vollzogen beschrieben. In typischer Weise wird eine negativ dargestellte Vergangenheit den ‚Erfolgen‘ der nationalsozialistischen Maßnahmen gegenübergestellt.

Schließlich erfolgt das in die Zukunft gerichtete Versprechen, das Einigungs-‚Werk‘ weiterzuführen, ergänzt um eine Drohung an „Gegenströmungen bösen Willens“, welche der Nationalsozialismus „mit größter Strenge“ überwachen werde.

Zum Schluss des Artikels steht ein Appell, der noch einmal die inkludierende und ‚gemeinschaftliche‘ Aufgabe des nationalsozialistischen Mobilisierungsprojekts in den Mittelpunkt stellt: Es sei die Pflicht aller Nationalsozialisten, „die Volksgenossen immer wieder zu veranlassen, sich mit den Schöpfungen und dem Geiste des Nationalsozialismus innerlich auseinanderzusetzen“ und sie für den Nationalsozialismus zu „gewinnen“. In gewisser Weise lässt sich hier eine sprachliche Realisierung des nationalsozialistischen Positionierungsimperativs beobachten: Die „Volksgenossen“ sollen dazu angeleitet werden, sich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen und sich zu positionieren. Prägnant, da in vielen Wendungen auftauchend, ist darüber hinaus die Phrase, dass der Nationalsozialismus nicht „nicht Sache des Verstandes, sondern des Herzens“ sei. Die Realisierung der „Volksgemeinschaft“ wird abschließend als fortlaufende ‚Arbeit‘ beschrieben, die „nach des Führers Worten das Trennende zurückstellen, das Einigende hervorholen“ solle.

Literaturverzeichnis

Schmiechen-Ackermann, Detlef/Buchholz, Marlis/Roitsch, Bianca/Schröder, Christiane (Hg.) (2018): Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte. Der Ort der 'Volksgemeinschaft' in der deutschen Gesellschaftsgeschichte. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

Wildt, Wildt (2014): Volksgemeinschaft, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 03.06.2014 [DOI: dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.569.v1].

Kämper, Heidrun (2020): „Gemeinschaft“, in: www.owid.de/artikel/407944.