Axel Schmidt hält auf der Tagung "Alltagspraktiken des Publikums: Theater, Literatur, Kunst, Populärkultur", die vom 29.2. bis 1.3.2016 im Apollo-Theater Siegen im Rahmen des Projekts "Theater im Gespräch. Sprachliche Kunstaneignungspraktiken in der Theaterpause" der Universität Siegen stattfindet, einen Vortrag zu diesem Thema.
Abstract:
„No audience, no performance“ postuliert Erving Goffman (1977) in seiner Rahmenanalyse. Soll heißen: Die Anwesenheit eines Publikums ist Voraussetzung, um beobachtbare Vorgänge als Aufführungen zu begreifen. Prototypisch hierfür seien – so Goffman – Theateraufführungen. Im Gegensatz zu anderen sozialen Vorgängen (vom Alltagshandeln bis zu Zeremonien), die gleichfalls in Teilen beobachtbar bzw. auf Beobachtung bezogen sind (vgl. Goffman 1983), endet die soziale Situation ‚Theateraufführung‘ mit dem Verschwinden von Beobachtern. Grund hierfür ist das Fehlen eines über die Darstellung hinausgehenden Zwecks. Goffman nennt sie deshalb „reine Aufführungen“.
Zugleich erweist sich der Prozess der Kreation und Herstellung von Theater aber als öffentlichkeitsabgeschirmter (vor allem im Anfangsstadium) sowie tentativer, experimenteller und intimer Vorgang, der aufgrund seiner besonderen Institutionalisiertheit als ‚Probe‘ (vgl. Matzke 2012) gerade nicht publikumsbezogen sein kann und soll. Dennoch entsteht im Schutzraum ‚Probe‘ die für Publika gestaltete Aufführung.
Diese Spannung aus kreativem Schonraum und immanenter Bezogenheit der Darstellung auf seine (spätere) Beobachtung ist konsequenzenreich für den Produktionsprozess: Einerseits ist Publikumswirkung zentral, andererseits stört eine (zu frühe) Orientierung an möglichen Publikums-Effekten den kreativen Prozess. Diese Vermittlungsleistung ist ein zentraler Aspekt der Regiearbeit (Leach 2013).
In meinem Beitrag gehe ich der Frage nach, ob und wie Theatermachende das Publikum bzw. dessen Bedürfnisse, Wünsche, Reaktionen etc. im Probenprozess antizipieren und was das für die laufende Probenarbeit bedeutet. Bezugspunkt ist damit nicht die kommunikative Aneignung durch ein Publikum, sondern die Reflexion des Publikums im Herstellungsprozess auf Produzentenseite. Der Blick auf das ‚andere Ende der Medienkommunikation‘ ergänzt die Frage nach der kommunikativen "Selbst-Konstruktion" des Publikums durch die Frage nach "Fremd-Konstruktionen" des Publikums durch die Produzenten. Fokus sind allerdings weder die Selbstdeutungen von Theaterschaffenden (wie sie etwa in Interviews greifbar werden) noch konzeptionelle Vorarbeiten (grundsätzliche Ausrichtung und Anlage des Stücks, mögliche Publika, die angesprochen werden sollen, Zielgruppenbezug, Relevanz und ‚Aussage‘ des Stücks etc.), sondern faktische Produktionspraktiken im Prozess der Probe selbst.
Empirische Grundlage zur Rekonstruktion von produktiven Praktiken im Probenprozess ist ein Korpus von über 30 Stunden Videoaufnahmen von Theaterproben im Amateur- und professionellen Bereich. An ausgewählten Ausschnitten soll im Beitrag gezeigt werden, welche unterschiedlichen impliziten und expliziten Formen des Publikumsbezug existieren, wie diese interaktiv realisiert werden und welche Rückschlüsse das auf die Weisen der Publikumskonstruktion im Kontext von Proben zulässt.
Literatur:
Goffman, Erving (1977): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrung. Frankfurt/M: Suhrkamp.
Goffman, Erving (1983): The interaction order. In: American Sociological Review, 48, 1, S. 1-17.
Leach, Robert (2013): Theatre studies: the basics. New York: Routledge, Taylor Francis Group.
Matzke, Annemarie (2012): Arbeit am Theater: Eine Diskursgeschichte der Probe. Berlin: De Gruyter.