Nachruf auf Joachim Schildt

[Joachim Schildt]

Am 22. Juni 2005 starb Joachim (Jochen) Schildt im 72. Lebensjahr in seiner Berliner Wohnung. Verschiedene gesundheitliche Beschwerden hatten ihm schon seit längerer Zeit zugesetzt, aber der Ernst der Bedrohung war weder ihm noch seinen Freunden deutlich, mit denen er noch im Frühjahr eine Reise an Schweizer Seen unternommen hatte.

Geboren am 28. März 1934 in Stendal, hatte Jochen Schildt dort das Winckelmann-Gymnasium besucht und von 1951 bis 1955 an der Berliner Humboldt-Universität Germanistik und im Nebenfach Latinistik studiert. Dort promovierte er 1960 bei Johannes Erben mit einer Arbeit über lokale Präpositionen im Ostmitteldeutschen und konnte sich 1968 mit einer weiteren Arbeit zum gleichen Themenbereich auch habilitieren. Nach dem Staatsexamen war er zunächst für sechs Jahre im Berliner Umland in den Schuldienst gegangen und dort zuletzt als Deutschlehrer und stellvertretender Schulleiter in Zehdenick tätig. Den DDR-typischen schwierigen Bedingungen und Problemen der schulischen Arbeit versuchte er jedoch bald zu entkommen. Theodor Frings und Johannes Erben ermöglichten ihm den Weg in das Berliner Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Deutschen Akademie der Wissenschaften. 1961 wurde Jochen Schildt dort Mitarbeiter der von Johannes Erben an der Akademie aufgebauten frühneuhochdeutschen Forschungsgruppe, die schon damals das Projekt eines frühneuhochdeutschen Akademiewörterbuchs vorzubereiten begann, das jedoch bald nach Erbens Weggang (1965) den neuen Planungen zum Opfer fiel. Jochen Schildt wurde mit mehreren anderen Lexikografen durch Leitungsbeschluss an das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache versetzt.

Während der Jahre der Akademiereform von 1968 bis ca. 1972 und des Bemühens um die Umbildung der ursprünglich gesamtdeutsch orientierten »Deutschen Akademie der Wissenschaften« in eine, wie es hieß, »sozialistische Forschungsakademie«, die »Akademie der Wissenschaften der DDR«, erkannte Jochen Schildt, dass erfolgreiche Forschungsplanung auch in der DDR wesentlich von eigenen Einflussmöglichkeiten abhing. Die ersten Jahre der Akademiereform waren in dem neuen Zentralinstitut für Sprachwissenschaft (ZISW) durch mehrfach auftretende Organisationsprobleme und Leitungsschwierigkeiten gekennzeichnet. Jochen Schildt hatte sich seit Beginn der durch die Reform eingeleiteten Umstellungsprozesse als fähiger Organisator bewährt, 1972 wurde er Leiter des Bereichs Sprachgeschichte, und 1973 folgte er dem Ruf in die Institutsleitung. In dieser neuen Stellung war er zu dem Schritt bereit, den er in seinen jüngeren Jahren im Schuldienst noch vermieden hatte, er trat in die SED ein. Seine besondere Sorge galt nun der Fortführung bzw. der Wiederaufnahme der durch Johannes Erben begründeten Forschungsarbeiten zum Frühneuhochdeutschen. Unterstützung fand er bei erfahrenen Kollegen wie Gerhard Kettmann, aber auch beim Institutsdirektor Günter Feudel, der ebenfalls frühe Verdienste um die Erforschung des Frühneuhochdeutschen besaß. Beide suchten zur Lösung dieser mit den offiziellen Zielen der Akademiereform nur schwer zu vereinbarenden Aufgabe das Bündnis und die Intensivierung der Zusammenarbeit mit den Sprachhistorikern der Moskauer Akademie der Wissenschaften (M. M. Guchman und N. N. Semenjuk) und deren Leningrader Abteilung (W. Admoni und V. Pavlov). Jochen Schildt hatte wesentlichen Anteil daran, dass sich die Projektplanung und die Forschungsarbeit des Instituts seit der Mitte der siebziger Jahre langsam wieder in ruhigerem Fahrwasser bewegen konnten. Auch andere sprachhistorische Unternehmen wie die jahrelang bedrohte Fortsetzung der Arbeiten am Deutschen Wörterbuch (Grimm), am Goethe-Wörterbuch, an den Deutschen Texten des Mittelalters oder am Brandenburgischen Namenbuch konnten gesichert und das Vorhaben eines neuartigen Etymologischen Wörterbuchs des Deutschen konnte durch Jochen Schildts Freund Wolfgang Pfeifer in vorbildlich knapper Zeit, dabei wesentlich unterstützt u. a. durch mehrere Mitarbeiter des Deutschen Wörterbuchs, vorbereitet und vollendet werden.

Jochen Schildt hat manche Kritik aushalten müssen und im Allgemeinen geduldig ertragen. Seine Leitungstätigkeit erforderte gelegentlich mehr Fingerspitzengefühl, als ihm zur Verfügung stand. Konflikte und Enttäuschungen blieben deshalb auch bei denen, mit denen er gern und intensiv zusammenarbeitete, nicht aus. Auch einige seiner eigenen sprachhistorischen Arbeiten, in denen er versuchte, den Forderungen nach einer marxistischen Begründung sprachgeschichtlicher Forschungen auf etwas schematische Weise gerecht zu werden, haben solche Kritik erfahren. Dass diese Kritik berechtigt war, ist ihm zunehmend bewusst geworden. Aber Jochen Schildt war verlässlich in der Zusammenarbeit und das auch in Konfliktsituationen. Er setzte sich früh dafür ein, auch Mitarbeitern von Akademieunternehmen, die nach der Akademiereform unter politischem Druck standen, endlich die Promotion zu ermöglichen. Auf sein ernstes Interesse an seriösen Arbeitsergebnissen durfte man vertrauen. Auch kritische Mitarbeiter, die im ZISW eine deutliche Mehrheit bildeten, schätzten die Berechenbarkeit seiner Haltung sehr.

Es war eine Besonderheit des streng kontrollierten Wissenschaftssystems der DDR, dass sich einigermaßen offene nationale und internationale Kontakte vor allem anlässlich international beschickter Tagungen anbahnen und erleben ließen. Solche Veranstaltungen hat Jochen Schildt mehrfach in verantwortlicher Stellung mitorganisiert und auch durch eigene Beiträge gefördert. Erinnert sei nur an die Internationale Luthertagung auf der Wartburg im März 1983, an den XIV. Internationalen Linguistenkongress im August 1987 in Berlin und an die letzte große Veranstaltung des ZISW über »40 Jahre Sprachwissenschaft und Sprachkultur in der DDR« im Oktober 1989. Bei solchen Anlässen hat er mit Nachdruck und Erfolg versucht, jungen Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit für die Vorstellung ihrer eigenen Arbeiten vor einem großen Publikum zu geben.

Ein besonderes Engagement sei abschließend noch erwähnt: Jochen Schildt unterstützte aus echtem Interesse - und mit sichtlichem Vergnügen an der dabei üblichen lockeren Atmosphäre - die Bemühungen der Bildungsstätte der Berliner Akademie um die deutsche Sprachausbildung von Mitarbeitern der Moskauer Akademie. Gemeinsam mit dem Berliner Leiter dieser Bemühungen, Dr. Konrad Moritz, fuhr er über Jahre immer wieder zu nahen und fernen Wissenschaftszentren in der Sowjetunion, um dort Vorträge über Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartssprache zu halten, die Unterrichtspraxis zu beobachten und das Interesse für deutsche Sprache zu fördern.

Nach der Auflösung des ZISW und der Abwicklung der DDR-Akademie gehörte Jochen Schildt zu den Berliner Sprachwissenschaftlern, die seit 1992 am Mannheimer Institut für Deutsche Sprache arbeiten konnten. Er war hier in Mannheim zunächst mehrere Jahre am Deutschen Fremdwörterbuch tätig und daran anschließend bis zu seiner Berentung im Jahr 1999 an Oskar Reichmanns Frühneuhochdeutschem Wörterbuch. Für diese Arbeit, die ihm die Anknüpfung an seine wissenschaftlichen Anfänge ermöglichte, war er dankbar. Er sah in ihr den Sinn seiner letzten Lebensjahre und führte sie als Bandbearbeiter auch nach der Rückkehr nach Berlin bis zu seinem Tode fort. Den vierten Band konnte er vollenden, mit der zweiten Lieferung des sechsten Bandes beschloss er diesen Teil seines Lebenswerks.

Der Nachruf wurde verfasst von Hartmut Schmidt