Flor Vander Haegen
Konstruktionsbeziehungen bei Irrelevanzgefügen im Gegenwartsdeutschen
Universität Gent, Belgien
Thema des hier zu besprechenden Dissertationsprojekts sind Beziehungen zwischen funktionsähnlichen Konstruktionen aus der Sicht der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik (Goldberg 1995, 2006). Diese sollen am Beispiel von sog. Irrelevanzkonditionalen (Zifonun et al. 1997: 2319) wie (1)–(2) im heutigen Deutsch erforscht werden (alle Belege stammen aus dem DeReKo):
(1) Was immer die Regierung macht, sie schafft sich Feinde. (Salzburger Nachrichten, 24.11.1998)
(2) Egal was passiert, es ist immer jemand für Dich da! (Braunschweiger Zeitung, 27.11.2010)
Die in (1)–(2) aufgeführten Satzgefüge weisen eine gemeinsame Konstruktionsbedeutung auf: Sie bestehen aus einem konditionalen Antezedens (kursiv in den Beispielen), das eine Menge von Bedingungen ausdrückt, und einem Konsequens, das unter all diesen Bedingungen gültig ist (König 1992: 425), weshalb Ersteres für Letzteres irrelevant ist. Die Antezedensmenge kommt bei Irrelevanzkonditionalen durch Quantifizierung zustande: In (1)–(2) legen die nebensatzinterne Partikel immer bzw. der nebensatzexterne Irrelevanzausdruck egal die Variable, die durch das w-Wort bereitgestellt wird, auf eine Free-Choice-Lesart fest (Haspelmath/König 1998: 568), sodass die Antezedensmenge in (1) jede beliebige Handlung der Regierung und in (2) jedes beliebige Ereignis erschöpft.
Aufgrund ihrer geteilten Konstruktionsbedeutung sind Irrelevanzkonditionale wie in (1)–(2) durch Synonymie-Beziehungen (Goldberg 1995: 91) miteinander verbunden. Zugleich weisen sie jedoch unterschiedliche Familienähnlichkeiten mit anderen Konstruktionen auf, im Falle von (1) mit freien Relativsätzen (Leuschner 2005: 288), im Falle von (2) mit Satzverbindungen wie (3):
(3) Es ist egal, was ich bin, ich bin ich. (Rhein-Zeitung, 25.10.1999)
Zwischen parataktischen Satzverbindungen unter Einschluss eines eingebetteten Fragesatzes wie (3) und hypotaktischen Satzgefügen mit nebensatzexternem Irrelevanzausdruck wie (2) besteht im Gegenwartsdeutschen ein syntaktisches Variationsspektrum, das Letztere als emergente Strukturen ausweist (Leuschner 2005: 289f.).
Die formale Variation bei Irrelevanzkonditionalen im heutigen Deutsch führt zu drei Problemstellungen, die sich z. T. aus bisherigen Darstellungen von Irrelevanzkonditionalen im Gegenwartsdeutschen (z. B. Breindl 2014; d’Avis 2015) ergeben, in diesen aber nicht beantwortet werden:
(i) Wie und inwiefern lassen sich die beiden Subtypen in (1) und (2) theoretisch begründet als einem einzigen Satztyp zugehörig interpretieren?
(ii) Wie lässt sich die syntaktische Variation zwischen Irrelevanzkonditionalen wie (2) und Satzverbindungen wie (3) sowie zwischen Irrelevanzkonditionalen wie (1) und freien Relativsätzen konstruktionsgrammatisch modellieren?
(iii) Wie und inwiefern lässt sich die formale Variation bei Irrelevanzkonditionalen funktional begründen?
Während in der bisherigen Literatur die Synonymität formal unterschiedlicher Konstruktionen wie (1)–(2) betont wird, bezieht sich Fragestellung (iii) auf das Prinzip der Nicht-Synonymität, dem zufolge sich formal unterschiedliche Konstruktionen auch funktional unterscheiden müssen (Goldberg 1995: 3).
Die drei Problemstellungen bilden einen Testfall für drei neu(er)e Konzepte in der Konstruktionsgrammatik: Im Rahmen von (i) ist zu klären, ob die Subtypen in (1)–(2) Allostruktionen (Cappelle 2006; De Vaere et al. 2020) bilden; zur Klärung von (ii) wird ermittelt, inwiefern sich das Konzept der syntaktischen Gradienz (Aarts 2007) in die Konstruktionsgrammatik integrieren lässt; und (iii) soll aus der Sicht der ‚sozialen Konstruktionsgrammatik‘ (Ziem 2015), die den Status von Konstruktionen als sozialkonventionalisierte Zeichen betont (ebd.: 2), untersucht werden. Das Projekt ist damit nicht nur die erste gründliche Einzeldarstellung von Irrelevanzkonditionalen aus konstruktionsgrammatischer Sicht, sondern verhält sich auch komplementär zum derzeit in derselben Forschungsgruppe (GLIMS, Univ. Gent) ausgeführten Projekt von Tom Bossuyt, der Irrelevanzkonditionale in den Sprachen der Welt untersucht. Dank diesem typologischen Hintergrund können die Fragestellungen (i)-(iii) zu einem Modell für Darstellungen von Irrelevanzkonditionalen in anderen Sprachen führen.
Literatur
Aarts, B. (2007): Syntactic gradience. The nature of grammatical indeterminacy. Oxford University Press.
Breindl, E. (2014): Irrelevanzkonditionale Konnektoren. In: Breindl, E./Volodina, A./Waßner, U. H. (Hg.): Handbuch der deutschen Konnektoren 2. Semantik der deutschen Satzverknüpfer. De Gruyter. S. 965–1009.
Cappelle, B. (2006): Particle placement and the case for ‚allostructions‘. In: Constructions 1, S. 1–28.
d’Avis, F. (2015): Satztyp als Konstruktion – Diskussion am Beispiel ‚Konzessive Konditionalgefüge‘. In: Finkbeiner, R./Meibauer, J. (Hg.): Satztypen und Konstruktionen. De Gruyter.
S. 267–295.
De Vaere, H./Kolkmann, J./Belligh, T. (2020): Allostructions revisited. In: Journal of Pragmatics 170, S. 96–111.
Goldberg, A. E. (1995): Constructions. A construction grammar approach to argument structure. University of Chicago Press.
Goldberg, A. E. (2006): Constructions at work. The nature of generalization in language. Oxford University Press.
Haspelmath, M./König, E. (1998): Concessive conditionals in the languages of Europe. In: Van der Auwera, J. (Hg.): Adverbial constructions in the languages of Europe. De Gruyter. S. 563–640.
König, E. (1992): From discourse to syntax. The case of concessive conditionals. In: Tracy, R. (Hg.): Who Climbs the Grammar Tree. Niemeyer. S. 423–433.
Leuschner, T. (2005): „Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n.“ Irrelevanzkonditionalen als grammatikalisierter Diskurs. In: Leuschner, T./Mortelmans, T./De Groodt, S. (Hg.): Grammatikalisierung im Deutschen. De Gruyter. S. 279–307.
Ziem, A. (2015): Desiderata und Perspektiven einer Social Construction Grammar. In: Ziem, A./Lasch, A. (Hg.): Konstruktionen als soziale Konventionen und kognitive Routinen. Stauffenburg. S. 1–21. Zifonun, G. et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. De Gruyter.