Diskursgeschichtliches Analysemodell

Das umbruchgeschichtliche Konzept setzt voraus, dass politisch-gesellschaftliche Veränderungen in Diskursen manifest bzw. konstituiert (und durch Veränderungen des Sprachgebrauchs gespiegelt) werden. Diese (sprachlichen) Veränderungen sind als Diskursphänomene zu beschreiben.

Diskursgeschichte beschreibt kommunikationsgeschichtlich bedeutende, d.h. medial in spezifischer, auffallender Weise repräsentierte Ereignisse hinsichtlich ihrer thematischen, funktionalen und lexikalischen Repräsentanten. Diskursgeschichte verhält sich so gesehen zu Kommunikationsgeschichte, wie diese zu Sprachgeschichte: als eine Forschungsperspektive eines aus einer komplexen Gesamtgeschichte isolierten Phänomens. Fortzusetzen ist diese Relation unterhalb der Diskursgeschichte als Textgeschichte, unterhalb der Textgeschichte als Wortgeschichte.

Als Beitrag zur diskursiv angelegten Sprach(gebrauchs)geschichte geht es bei der Diskursgeschichte um die Beantwortung der Frage, warum und wie ein Sachverhalt, ein Ereignis, eine Befindlichkeit  sprachlich gefasst und gedeutet,  warum Wirklichkeit  so  und  wie sie im Zuge dieses Diskurses sprachlich konstituiert wird.

Damit richtet sich das Erkenntnisinteresse nicht auf die Systematisierung sprachlicher Phänomene, sondern vielmehr auf die Deutung und Erklärung von Sprachgebrauchsweisen einer spezifischen Sprachgemeinschaft zu einer bestimmten Zeit und auf die sprachhistorische Einordnung dieser Sprachgebrauchsweisen als Umbruch.

Umbruchgeschichtliche Diskursanalysen haben zwei Aufgaben: 1. einen Umbruch synchronisch sprachlich zu inventarisieren; 2. die Befunde dieser Inventarisierung sprachgeschichtlich diachronisch zu bewerten.

Auf der Ebene der Synchronie ist nach den, die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts konstituierenden Diskursen und den diese Diskurse repräsentierenden Sprachgebrauchsformen zu fragen. Auf der Ebene der Diachronie ist zu untersuchen, inwiefern die politisch-gesellschaftlichen Umbrüche jeweils die sprachliche Vor- bzw. Nachgeschichte von Demokratisierungsschüben bzw. -brüchen darstellen. Diese Bewertung kann nur auf der Ebene des zeitlichen Kontinuums stattfinden.

"Diskurs" bezeichnet die Manifestation themenkohärenter, textuell heterogen repräsentierter, konsensuell und bzw. oder dissensuell geführter kollektiver kommunikativer Akte einer unbestimmten Anzahl von Diskursbeteiligten über einen unbestimmten Zeitraum.

Veränderungen von Diskursen sind solche, die die diskursive Kohärenz betreffen und die mit den Kategorien "Ereignis" und "Serie" darstellbar sind.

Foucault beschreibt "Ereignis" als einen Grundbegriff der Diskursanalyse und meint damit das plötzliche unvorhergesehene Aufkommen einer Aussage (enoncé). Dieser Gedanke ist auf das Umbruch-Konzept übertragbar. Mit 'Ereignis' lässt sich der Moment bezeichnen, in dem sich gesellschaftliche und damit auch sprachliche Brüche, Umorientierungen, Neuerungen manifestieren.

Serialität, also die Reihenbildung referenzidentischer Einheiten, ist die zweite entscheidende Leitidee des Diskursbegriffs. Unter der Voraussetzung, dass Serialität Indikator ist für Kontinuität und Diskontinuität, hat eine plötzliche gesellschaftliche bzw. politische Veränderung der diskursiven Kohärenz serielle Diskontinuität zur Folge.

Serielle Diskontinuität ist dasjenige Phänomen, das auf der Ebene des Themas, der Texte, der Beteiligten und der Lexik einen Umbruch sprachlich indiziert.

Thema
Texte eines Diskurses sind nach dem inhaltlichen Kriterium des Themas strukturiert. So stellen sich Serien unterschiedlicher Texte von unterschiedlichen Autoren her, die hinsichtlich des Gegenstands, den sie thematisieren, identisch sind. Das thematische ist damit zugleich das Hauptkriterium zur Abgrenzung eines Diskurses.

Die thematische Diskursstruktur gibt Aufschluss über die brisanten, mindestens aber signifikanten Probleme und Gegenstände einer Gesellschaft, die im Sinn sprachlicher Identität oder Varietät konstituiert werden.

Sprachliche Identität gibt Aufschluss über die gesellschaftliche Brisanz eines bestimmten Gegenstands. ("Wenn alle Welt in gleicher Weise über x redet, ist x ein zentrales gesellschaftliches Problem.")

Sprachliche Varietät einer Themenkonstituierung gibt Aufschluss z.B. über die Kontroversität von Haltungen und Einstellungen zu einem bestimmten Gegenstand. ("Wenn x einerseits als Segen, anderseits als Fluch konstituiert wird, dann ist x ein kontrovers konstituiertes gesellschaftliches Problem.")

Themenwandel ist ein sprachgeschichtlicher Umbruchindikator. In Umbruchzeiten ändert sich die thematische Diskursstruktur, entweder, indem neue Themen den Diskurs bestimmen, oder indem Themen nicht mehr präsent sind, oder, indem sie modifiziert, präzisiert oder aspektualisiert werden.

Beteiligte
Eine Diskursgemeinschaft entsteht erst durch die analytische Strukturierung eines Textkorpus und ist eine heuristische Kategorie.

Ein gesellschaftlicher und sprachlicher Umbruch wird weder von einer ganzen Gemeinschaft initiiert und getragen, noch ist er ein individuelles Phänomen, sondern zu beschreiben als eine von einer bestimmten Gruppierung einer Gemeinschaft - der Diskursbeteiligten - initiierte gesellschaftliche und sprachliche Veränderung.

'Diskursbeteiligte' meint diejenige Personengruppe, die spezifischen, zeittypischen Diskursen Thema, Dichte und Dynamik geben, die also die Diskurshoheit haben. Sie bilden eine aus heterogenen Teil-Gemeinschaften bestehende komplexe Formation, die gekennzeichnet ist durch unterschiedliche Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizonte und ein je spezifisches Selbstverständnis der Beteiligten.

Unabhängig vom Thema sind Diskursbeteiligte stets Repräsentanten der gesellschaftlichen Domänen, der Politik und Parteien, der Gewerkschaften und Verbände, der intellektuellen Gesellschaftskritik, des Rechtswesens, der Kirche und Theologie, der Kunst und Kultur usw.

Je nach Diskursthema sind diese in spezifischer Weise beteiligt. Insofern besteht eine Relation zwischen den Diskursbeteiligten und der Konstitution des Diskursthemas.

Da die Perspektivengebundenheit der Diskursbeteiligten weltbild- und einstellungsprägend ist, bewirkt diese die thematische Ausgestaltung der Diskurse, gibt ihren sprachlichen Erscheinungsformen eine komplexe, ggf. kontroverse Struktur.

Die Beteiligtenkonstellation eines Diskurses ist Umbruchindikator. Vorausgesetzt wird, dass sich in Umbruchzeiten die Zusammensetzung der Diskursgemeinschaft ändert, dass nunmehr diejenigen beteiligt sind, die aufgrund der Machtkonstellation zuvor ausgeschlossen waren.

Texte/Textsorten/Korpus
Diskurs ist eine sämtliche gesellschaftliche Daseins- und Ausdrucksformen betreffende Sinngebungsinstanz. Diskursanalyse ist daher eine spezifische (dem jeweiligen Erkenntnisinteresse entsprechende) Art von Gesellschaftsanalyse, welche auf sämtliche eine Gesellschaft realisierende Sphären - nicht nur Politik, sondern auch Wissenschaft, Kultur, Religion, Alltag - referiert.

Dementsprechend setzt sich ein Diskurs zusammen aus Serien themenidentischer, hinsichtlich Textsorte und Urheber aber heterogener Texte. Sie bilden das Korpus einer Diskursanalyse.

Diese Heterogenität der empirischen Grundlage ist ein Merkmal von Diskursanalyse. Denn die Präsenz eines Themas in sehr unterschiedlichen Texten und Kommunikationssituationen ist Voraussetzung dafür, dieses gesellschaftliche Phänomen der thematischen Omnipräsenz Diskurs zu nennen.

Ein Diskurs wird zum einen realisiert in diskursunspezifischen Medientexten (Zeitungen, Zeitschriften), die zu allen Zeiten die gesellschaftlichen Diskurse repräsentieren, vor allem aber in spezifischen Textträgern bzw. kommunikativen Mustern, die seine Struktur signifikant prägen.

Texte und Textsorten als empirische Basis zur Rekonstruktion der Umbruchgeschichte des 20. Jahrhunderts sind, neben denen der Massenmedien, u.a. autobiographische Berichte und Memoiren (wegen ihres starken Vergangenheitsbezugs), zeit- und sozialkritische Texte, programmatische Texte von Parteien, sowie Reden zu politisch bzw. gesellschaftlich bedeutenden Anlässen (wegen ihres hohen analytischen Potenzials und ihres Gegenwarts- und Zukunftsbezugs), Flugblätter, Tagebücher und Briefe (wegen ihrer zeitlich unmittelbaren Authentizität), fiktionale Texte der schönen Literatur (wegen der Freiräumigkeit, in der sie entstanden sind und der, gesellschaftliche und politische Gegebenheiten ästhetisierend reflektierenden Perspektive).

Lexik
Linguistische Diskursanalyse im zeitgeschichtlichen Horizont untersucht den Gebrauch lexikalischer Einheiten in Bezug auf ihr serielles Vorkommen auf der Folie der historischen politisch-gesellschaftlichen Bedingungen dieses Gebrauchs

Insofern der Wortschatz diejenige sprachliche Ebene ist, auf der sich gesellschaftlicher Wandel am deutlichsten und unmittelbarsten abzeichnet, ist in linguistischer Hinsicht zentraler umbruchgeschichtlicher Untersuchungsgegenstand die lexikalische Dynamik. Das bedeutet: die Beschreibung von Benennungs- und Bezeichnungswandel hinsichtlich der den Diskurs verdichtenden Leit- und Schlüsselwörter, der Brüche von Formulierungstraditionen, der Metaphorik, der lexikalisch repräsentierten Deutungsmuster.

Leit- und Schlüsselwörter sind die als sog. 'politische Schlagwörter' erwartbaren meist substantivischen lexikalischen Einheiten. Sie verdichten einen Diskurs in hohem Maß, insbesondere die Klassiker des politischen Diskurses, wie etwa Frieden, Freiheit, Demokratie, Nation, etc. Es sind dies diejenigen Leitwörter, die unter dem Zeichen eines Umbruchs Neu- bzw. Umdeutungen erfahren.

Mindestens ebenso diskurs- und umbruchrelevant wie solche meist substantivischen Leitwörter sind außerdem Verben und Adjektive, bis hin zu typischen Wortbildungsmorphemen (wie neu- und wieder-) und Temporaladverbien und -phrasen (wie z.B. früher, einst, nie zuvor, wie noch nie).

Darüber hinaus sind zentraler diskurslexikologischer Gegenstand Kollokationen und Wortverbindungen.

Am ausgeprägtesten manifestiert sich sprachlicher Umbruch auf der lexikalisch-semantischen Ebene in Form von "echten" Innovationen, insbesondere aber von Neu- und Umdeutungen, sowie von Veränderungen kollokativer Strukturen.