Februar 2021

Ideologische Reproduktionsversuche. Ein Abituraufsatz aus dem Jahr 1936

KLV-Lager Berliner Kinder in Hassitz bei Glatz während der Geographiestunde in einem der Klassenräume, Oktober 1940

Die Schule war während des Nationalsozialismus ein zentraler Ort der Ideologievermittlung (Flessau 1977; Trapp 1994). Diese Konstellation sollte nicht als Top-Down-Prozess vorgestellt werden. Denn weder waren alle Lehrkräfte überzeugte Nationalsozialisten, noch wurden die Schülerinnen und Schüler ausschließlich durch den Schulunterricht geprägt. Allerdings bedingte die kommunikative Konstellation in der Schule, die geprägt war von Machtasymmetrien zwischen Schüler*innen und Lehrkräften, gegenseitiger Überwachung und hohem Konformitätsdruck, dass vermittelte Inhalte – speziell in Prüfungssituationen – wiedergegeben werden mussten.

Anhand eines Abituraufsatzes aus dem Jahr 1936 wird im Folgenden exemplarisch gezeigt, wie in einer spezifischen kommunikativen Konstellation zentrale Elemente nationalsozialistischer Diskurse sprachlich reproduziert wurden.

Quellentext

Deutscher Prüfungsaufsatz, Gymnasium zu Berlin-Steglitz, den 20.1.1936, abgedruckt in Sauer 2012:

Wir bauen mit am neuen Reich!

„Vorwärts, vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren, vorwärts, vorwärts! Jugend kennt keine Gefahren, Deutschland du wirst leuchtend stehn, mögen wir auch untergehn!“

Mit diesem Sturmlied auf den Lippen und den Sturm und Drang der Jugend im Herzen, zogen die besten deutschen Jungen in Kampf und Gefahr um ein neues leuchtendes Deutschland, um die Idee ihres Führers Adolf Hitler. Gerade dieser Tage gedenken wir eines Kameraden von uns, eines wahrhaft jugendlichen Helden: Herbert Norkus, der am 24. Januar 1932 von marxistischen Deutschentfremdeten ermordet wurde. Indem wir sein Andenken bewahren, werden wir immer wieder erinnert, es war kein leichter Kampf und die besten Jungen fielen. Jedoch nach dem großen Sieg wollen wir nicht vergessen, daß es gilt, weiterzubauen, und daß gerade die Jugend eine wesentliche Stütze beim Aufbau des neuen Reiches ist.

Wir wollen durch unsere Arbeit in der Hitlerjugend zu wertvollen, deutschen Männern werden.

Mit diesem Satz könnte man die Ziele der heutigen Jugendbewegung überschreiben. Wir Hitlerjungen sind uns bewußt, daß auf unseren Schultern einst ein leuchtendes, freies Deutschland ruhen muß, denn „wir sind der Zukunft Soldaten, Träger der kommenden Taten!“ Welch ungeheure Pflichten wachsen nicht da vor jedem einzelnen von uns Jungen auf! Es heißt nicht Kampf allein, es heißt Arbeit an sich selbst und als Jugendführer an jedem einzelnen Jungen, der einem anvertraut ist.

Sehen wir auf unsere germanischen Vorfahren, so finden wir von ihnen viele Grundsätze vertreten, die für unser Handeln richtungsweisend sein müssen, die zu lernen und zu fördern unser Sinn ist. Sie sollen uns in der Jugend für das Alter eingewurzelt werden, damit wir wahrhaft Glieder des Volksganzen werden, um Ewigkeit wirken zu können, indem diese Gedanken von uns auf kommende Generationen übermittelt werden und Volksgut werden.

Durch Pflegen und Erwecken der Kameradschaft schon in der kleinsten Gruppe der Hitlerjugend lernen wir Treue auch für das spätere Leben, Treue, die Ureigenschaft alles Germanischen. - Das Wort Treue bedeutet im Germanischen „Vertrag“!, läßt sich also nicht ohne weiteres mit unserem heutigen Begriff gleichsetzen. - „Dir selbst sei treu und treu den anderen!“. Durch die Treue zum Führer sind wir alle zusammengeschweißt, durch die Treue zum Deutschen Volk einen sich unsere jugendlichen Ziele. Und im Dienst der Gemeinschaft uns selber treu zu werden, ist unser höchstes Ziel, indem wir uns selbst opfern, das persönliche „Ich“ zurückstellen und das gemeinsame „Wir“ betrachten, den Sinn der Volksgemeinschaft erkennen und in die Tat umzusetzen bestrebt sind. Wir erkennen, daß wir als Volk der Deutschen untrennbar zusammengehören durch Blut und Boden. Wenn wir dieses Gedankengut später in die Tat umsetzen, so werden wir des Volkes bestes Mark fördern und erhalten.

Dazu lernen wir die oberste Pflicht für eine Gemeinschaft: sich unterordnen zu können unter höheren Befehl, sich hinzugeben für eine große Idee. Zum selbstverständlichen, freiwilligen Gehorsam kommt die Selbstzucht. Denn jeder deutsche Junge muß Herr seiner selbst sein, sich selbst befehlen können und in allen Lebenslagen seine Haltung zu bewahren wissen. Wir stählen uns geistig und körperlich durch Sport und Wissenschaft, denn die ernste Zeit verlangt von uns ganze Kerls, denn Mensch sein heißt Kämpfer sein. Goethe äußerte den Wunsch, daß sein Grabstein mit folgenden Worten beschriftet würde:

„Machet nicht viel Federlesen. Schreibt auf meinen Leichenstein: Dieser ist ein Mensch gewesen, und das heißt: ein Kämpfer sein.“

„Unser Gebet ist der Kampf" heißt das Leitwort der heutigen Jugend. Kampf ums tägliche Brot! Kampf um Stellung und Unterkommen! Kampf allen volksfremden Elementen, dem Lug und Trug der Welt! Wir Jungen sind bereit!

Denn wir haben als leuchtendes Vorbild unseren Führer. Sein Leben war ein Kampf, und er wird weiterkämpfen, voll unterstützt durch seine Jugend. Wie leuchten seine Augen, wenn er am 1. Mai durch die zum Appell angetretenen Reihen der Jugend fährt, wenn er auf dem Parteitag in Nürnberg stürmisch begrüßt seiner Jugend die Ziele steckt: „Die Deutsche Jugend soll sein: Flink wie die Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl!“ und wenn dann die sechs Millionen deutscher Hitlerjungen ihre Arme zum Treueschwur emporreißen in dem Bekenntnis:

„Führer Dir gehören wir, wir Kameraden Dir!“

Nur eine gefestigte Jugend kann Deutschlands spätere Stütze sein. Sie kann getrost das Schiff des Staates lenken, denn sie hat früh gelernt, was ihr Volk von tiefster Schmach zum hellsten Glanze führte!

„Wir Jungen führen das Steuer, der Weg geht geradeaus, das Ziel liegt voraus: Deutschland!“

Die äußere Glätte der Darstellung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Ausführung eigentlich nur aus allgemeinen, z. T. reichlich blassen Erwägungen besteht und überall da Halt macht, wo faßbares und anschauliches Beispiel sein müsste.

genügend

Klassenleistungen: nur i.g. genügend,

gez. Dr. K.

Kommentar

Insgesamt lässt sich der Text als Versuch einer Reproduktion der NS-Deontik interpretieren. Er entfaltet durch verschiedene sprachliche Formulierungen ein starkes affirmatives Bekenntnis- und Gelöbnispotenzial. Folgende ausgesuchte Aspekte können dabei hervorgehoben werden:

- „Wir“-Konstruktionen („Wir bauen“, „Wir wollen“/“wollen wir“, „Wir […] sind uns bewusst“, „Wir erkennen“ usw.), die zumeist auf das größere Kollektiv ‚Hitlerjugend‘ bzw. ‚-jungen‘ verweisen;

- intertextuelle Referenzen, die zur Unterlegung und Legitimierung der eigenen Argumentation dienen: „Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren“ war das sogenannte „Fahnenlied der Hitler-Jugend“, das zweite Zitat ist ebendiesem Lied entnommen. „Machet nicht viel Federlesen […]“ stammt von Johann Wolfgang von Goethe, dessen Werk sich die Nationalsozialisten in spezifischer Wendung durchaus angeeignet haben. Das vorliegende Zitat schien dem Verfasser mutmaßlich durch den Bezug auf das Kämpfer-Sein geeignet. Schließlich wird auch die bekannte Stelle aus Hitlers Rede an die Hitler-Jugend auf dem Reichsparteitag im September 1935 (zu beachten ist die zeitliche Nähe zum Zeitpunkt der Aufsatzverfassung) wiedergegeben („Flink wie die Windhunde […]“);

- Verwendung zahlreicher nationalsozialistischer Leitkonzepte (‚Kampf‘, ‚Treue‘, ‚Volk/Volksgemeinschaft‘, ‚Führer‘ ‚Arbeit‘, ‚Jugend‘, ‚Pflicht‘, ‚Blut und Boden‘, ‚Aufbau‘, ‚Reich‘ ‚Germanisches‘). In dieser Häufung kommt ihnen eine markante affirmative Signalfunktion zu, die die nationalsozialistische Überzeugung des Verfassers dokumentiert bzw. dokumentieren soll;

- apodiktische Feststellungssätze;

- Verwendung von In- und Exklusionskategorisierungen.

Zentral ist schließlich der Reproduktionsversuch der nationalsozialistischen (Volks-)Gemeinschaftsideologie, die im Kern ein ‚neues‘ Beziehungsverhältnis zwischen Individuum und Kollektiv propagierte.

Interessant ist nun, dass diese Darstellung den prüfenden Lehrer anscheinend nicht vollständig überzeugte. Wie aus den Anmerkungen hervorgeht, hielt er den Text für oberflächlich und zu wenig anschaulich. Ohne diesen Lehrerkommentar überinterpretieren zu wollen, weist er doch auf die Spezifik und Problematik der Kommunikationssituation Schule bzw. Schulprüfung im Nationalsozialismus hin, in die mehrere Beteiligte involviert waren. Erlernte Ideologie zu reproduzieren konnte unter Umständen nicht ausreichen, wenn sich die Darstellung darin erschöpfte, auswendig gelernte Phrasen zu wiederholen. Vielmehr waren „faßbare“ und „anschauliche“ Beispiele gefordert, die beweisen sollten, dass die Ideologie auch wirklich auf das eigene Leben übertragen wurde.

Literaturverzeichnis

Flessau, Kurt-Ingo (1977): Schule der Diktatur. Lehrpläne und Schulbücher des Nationalsozialismus, München: Ehrenwirth.

Sauer, Bernhard (2012): „Nie wird das Deutsche Volk seinen Führer im Stich lassen“. Abituraufsätze im Dritten Reich, Berlin: Duncker & Humblot.

Trapp, Joachim (1994): Kölner Schulen in der NS-Zeit, Köln/Weimar/Wien: Böhlau.