September 2020

Die exkludierende Deontik im "Blutschutzgesetz"

„Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“

Ein großes Interesse der Linguistik besteht an Fragestellungen zur Konstruktion von Wirklichkeit mithilfe sprachlicher Äußerungen. Wie wird durch ein Wort, einen Satz, einen Text usw. Realität geschaffen? Das Gesetz als Textsorte wirkt genau in dieser Hinsicht. Es ist normativ und dementsprechend deontisch, es besagt also, was sein soll. Durch die Deklaration erschafft es zukünftige Realität. Damit der deklarative Sprechakt erfolgreich sein kann, wird von der deklarierenden Institution eine berechtigende Diskursposition erfordert. Anders gesagt: Die Institution bzw. der entsprechende Akteur muss bereits das Recht inne haben ein Gesetz zu erlassen; diese legislative Funktion muss ex ante anerkannt sein. Nun bestand das NS-Regime bereits mehr als zweieinhalb Jahre, als die Nürnberger Gesetze – und darunter auch das hier behandelte sogenannte Blutschutzgesetz – am 15. September 1935 verabschiedet wurden. Die Diskursposition war gegeben und wurde, basierend auf der nationalsozialistischen Rassenideologie, unter anderem „zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ genutzt. Bei der folgenden Analyse des Gesetzes zeigt sich vor allem in Dichotomien, dass Deklarationen eine ‚deutsche‘ Identität und eine ‚jüdische‘ Alterität konstruieren. Dies geschieht explizit wie auch implizit als logische Schlussfolgerung. Identität ist eine Aspiration (vgl. Straub 2004, S. 279-281) und erzeugt zugleich immer Alterität (vgl. Hahn 1994). Kollektive Identitäten vollziehen und legitimieren dabei Exklusionsakte, also stigmatisierende Konstruktionen von kollektiven Alteritäten, durch ständige Binnenstärkung mithilfe von Ritualen sowie festen Einheitssymbolen und -mythen (vgl. Horatschek 2013, S. 323). Das Blutschutzgesetz lässt sich dementsprechend auch als Teil eines deontischen Netzes beschreiben, das Identität („Deutsches Volk“) durch Konstruktion von Alterität („Juden“) schafft. Durch das Gesetz wurde insbesondere die antisemitische Leitvorstellung von „Rassenschande“, die bereits vorher kursierte, in den Rang eines inkriminierten Tatbestandes erhoben. Es stellt damit einen deontischen Markstein des Nationalsozialismus dar, an dem sich Konzepte von ‚Rasse‘, ‚Blut‘ und ‚Ehre‘ in charakteristischer Weise bündelten

 

Quellentext

Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre.

Vom 15. September 1935.

Durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat der Reichstag einstimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird:

§ 1

(1) Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig, auch wenn sie zur Umgehung dieses Gesetzes im Ausland geschlossen sind.

(2) Die Nichtigkeitsklage kann nur der Staatsanwalt erheben.

§ 2

 Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten.

§ 3

Juden dürfen weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt nicht beschäftigen.

§ 4

(1) Juden ist das Hissen der Reichs- und Nationalflagge und das Zeigen der Reichsfarben verboten.

(2) Dagegen ist ihnen das Zeigen der jüdischen Farben gestattet. Die Ausübung dieser Befugnis steht unter staatlichem Schutz.

§ 5

(1) Wer dem Verbot des § 1 zuwiderhandelt, wird mit Zuchthaus bestraft.

(2) Der Mann, der dem Verbot des § 2 zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis oder mit Zuchthaus bestraft. 

(3) Wer den Bestimmungen der §§ 3 oder 4 zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen bestraft.

§ 6

Der Reichsminister des Innern erläßt im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers und dem Reichsminister der Justiz die zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften.

§ 7

Das Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung, § 3 jedoch erst am 1. Januar 1936 in Kraft.

Nürnberg, den 15. September 1935

am Reichsparteitag der Freiheit.

Der Führer und Reichskanzler

Adolf Hitler

Der Reichsminister des Innern

Frick

Der Reichsminister der Justiz

Dr. Gürtner

Der Stellvertreter des Führers

R. Heß

Kommentar

Zunächst ist am Titel auffällig, dass es sich um ein ‚Schutzgesetz‘ handelt, also 1.) die Legislative bzw. in diesem Fall konkret das NS-Regime eine vermeintlich behütende Funktion einnimmt, 2.) es etwas zu Schützendes und daraus abgeleitet 3.) auch etwas Bedrohendes gibt. Zu schützen gilt es das „deutsche Blut“ und die „deutsche Ehre“. Letztere wird nur im Titel genannt und ist ein Hochwertwort, das auch außerhalb des Gesetzes deontisches Potenzial besitzt: Ehre soll gewahrt werden. Blut als weiteres zu beschützende Element stellt zum einen neben die geistige Ebene der Ehre eine körperliche Ebene und lässt sich zum anderen symbolisch als Lebenssaft verstehen, der das Gesetz biologisch-medizinisch konnotiert und legitimieren soll.

Die Legitimierung der behütenden Funktion und des Gesetzes selbst erfolgt in der Präambel. Hier wird von „der Erkenntnis“ gesprochen, die den gesetzgebenden Akteur „[d]urchdrungen“ hat. Da es schleierhaft bleibt, woher die Erkenntnis gewonnen werden konnte und sie dennoch bekenntnishaft durchdringende Wirkung zeigte, erinnert die Formulierung mehr an eine Epiphanie ohne logische Herleitung als an ein epistemisches Ergebnis. Die Erkenntnis wird näher erläutert und stellt somit die einzige Prämisse innerhalb des Gesetzes für das Gesetz dar: „die Reinheit des deutschen Blutes [ist] die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes“. Von diesem rassenideologischen Satz ausgehend werden die später folgenden Paragraphen entwickelt. Die Notwendigkeit für diese Paragraphen findet sich in „dem unbeugsamen Willen“, von welchem das NS-Regime „beseelt“ ist. Auch hier ist ähnlich zu „[d]urchdrungen“ die bekenntnishafte Leitvokabel beseelt zu beachten, die die deontische Dimension des Wortes Wille transzendiert. Der erwähnte Wille zielt darauf ab, „die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern“. Hyperbolisch wird hier ein zeitkonzeptioneller Superlativ verwendet, der wiederum in Kombination mit der Unbeugsamkeit des Willens sowie dem Reichstag, der das Gesetz „einstimmig“ beschloss, die Legitimität der Paragraphen emphatisch betont.

Die sieben Paragraphen lassen sich in drei Abschnitte unterteilen. Zuerst folgen bis einschließlich Paragraph 4 und deontologisch am stärksten geprägt die Verbote. Paragraph 5 beinhaltet als zweiter Abschnitt die Bestrafungen für einen Verstoß gegen die Verbote und die Paragraphen 6 und 7 stellen Formalien dar. Der Fokus liegt auf dem ersten Abschnitt, der diejenige Dichotomie in drei von vier Paragraphen ausformuliert, welche bereits oben benannt wurde: Es gibt etwas zu Schützendes und etwas Bedrohendes. „Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes“ sind zu schützen. Diese juristische Formulierung als Identitätsbegriff ist ein Verweis auf das Reichsbürgergesetz. Die Alterität dazu und damit die Bedrohung stellen „Juden“ dar. Hier ist auch zu beachten, dass Titel sowie Präambel ausschließlich die Identität fokussieren und die Verbotsparagraphen wiederum die Alterität stets in Abgrenzung zur Identität behandeln. Folglich vollzieht sich der Exklusionsakt explizit sprachlich erst innerhalb der Paragraphen.

§1: Die Institutionalisierung solcher zwischenmenschlicher Beziehungen ist nicht möglich. Bemerkenswert ist, dass ausländisches Recht in Absatz (1) übergangen wird, indem eine Eheschließung im Ausland nicht nur nicht in Deutschland anerkannt wird, sondern dass eine solche Eheschließung universell als nichtig erklärt wird. In Absatz (2) wird zudem Betroffenen dieses Paragraphen jegliche juristische Handlungsfähigkeit verweigert, weil die „Nichtigkeitsklage“ einem staatlichen Organ und eben nicht den Betroffenen vorbehalten ist.

§2: Hier wird die biologistisch begründete Prämisse aus der Präambel nochmal konkret aufgegriffen, wenn von der „Reinheit des deutschen Blutes“ die Rede ist. Mit Reinheit wurde ein deontisches Wort gewählt, im Sinne von etwas, das rein gehalten, das geschützt werden soll und verschmutzt werden kann. Somit wird Juden das Attribut schmutzig bzw. unrein zugeschrieben.

§3: Ähnliches gilt auch für Paragraph 3. Die Isolierung von Identität und Alterität wird hier auf private Beschäftigungsverhältnisse ausgeweitet, wiederum so, dass die Prämisse eingehalten wird, Kinder von „Juden“ und „Staatsangehörige[n] deutschen oder artverwandten Blutes“ gesetzlich zu verbieten.

§4: Weniger bio- jedoch ebenso identitätspolitisch ist dieser Paragraph. Absatz (1) verbietet Juden grundsätzlich sich mit Symbolen zu zeigen, die für die Identität des deutschen Volkes aus Sicht der Nationalsozialisten bezeichnend sind. Die entsprechenden Symbole werden also vom NS-Regime reklamiert und eine Identifizierung für Juden ausgeschlossen. Um die Abgrenzung und Trennung noch schärfer zu machen wird in Absatz (2) mit „jüdischen Farben“ der Alterität eine eigene Symbolik zu- und vorgeschrieben. „Die Ausübung dieser Befugnis steht unter staatlichem Schutz“ und wird somit vom Staat, vom NS-Regime, gewünscht und weitergehend gefordert. Das grundlegende Merkmal des Blutschutzgesetzes zeigt sich hier nochmals, indem sich die deontologisch fundierte Trennung von "Deutschen" und "Juden" in den rassistisch verwendeten Kategorien Blut und Ehre begründet. Die bereits bestehende Diskriminierung und Ausgrenzung von Juden wurde somit als Gesetz institutionalisiert.

Literaturverzeichnis

Hahn, Alois (1994): Die soziale Konstruktion des Fremden. In: Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Hrsg. von Walter M. Sprondel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 140-163.

Horatschek, Anna-Margaretha (2013): Identität, kollektive. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 5. Aufl. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart: Metzler. S. 323-324.

Straub, Jürgen (2004): Identität. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Bd. 1. Hrsg. von Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch. Stuttgart/Weimar: Metzler. S. 277-300.