Oktober 2020

Das "Winterhilfswerk" als fester Bestandteil nationalsozialistischer Propaganda

Gesetz über das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes im Reichsgesetzblatt 1936

Jedes Jahr zur anstehenden Winterzeit wurden im Nationalsozialismus durch das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes (WHW) Geld- und Sachspenden für Bedürftige ‚Volksgenoss*innen‘ gesammelt. Die Sammelaktionen der allgemein als ‚Winterhilfswerk‘ bekannten Stiftung waren als wiederkehrende Ereignisse fester Bestandteil des nationalsozialistischen Propagandainstrumentariums. Das Winterhilfswerk gilt mithin als „Aushängeschild nationalsozialistischer Sozialpolitik und Fürsorge“ (Vorländer 1986: 373) und knüpfte an „vormoderne Muster und Formen der Fürsorge“ der Weimarer Republik an (Tennstedt 1987: 158). Aufgrund des immensen Spendenaufkommens war das Winterhilfswerk ein wichtiger Stützpfeiler der NS-Sozialpolitik (vgl. Tennstedt 1987).

Die Sammelaktionen des Winterhilfswerks sollten den Mitgliedern der nationalsozialistischen Gesellschaft das Gefühl vermitteln, mit ihrem Beitrag etwas Gutes zu leisten. Dabei stand vor allem der Beitrag zur Volksgemeinschaft im Vordergrund. „Mit kaum einer anderen Institution wurde das Programmziel der NSDAP ‚Gemeinnutz steht vor Eigennutz‘ propagandistisch so sinnfällig vorgeführt“ (Tennstedt 1987: 157). Die Reichweite dieser NS-Diktion bildet sich auch im alltäglichen Sprachgebrauch der integrierten Gesellschaftsmitglieder ab, der nicht allein Abziehbilder NS-propagandistischen Sprachgebrauchs produzierte, sondern in dem sich vielmehr NS-Ideologie reproduzierte und in den Bereich des Persönlichen und Alltäglichen diffundierte. Im vorliegenden Schulaufsatz, den die damals 16-jährige Lore Walb am 12. März 1936 verfasste (Walb 1997: 71-72), imitiert die Schülerin, so lässt sich die Überschrift „Das Winterhilfswerk des deutschen Volkes. Ansprache“ deuten, eine Rede zu den Sammelaktionen des WHW. In ihrem rückblickenden Kommentar zu dem Tagebucheintrag, schreibt Walb nach 1945, dass die Bevölkerung „mit allen Mitteln der Propaganda“ (Walb 1997: 72) bearbeitet wurde und der Aufsatz auch gewissermaßen als Produkt dessen zu verstehen sei.

Quelltext

Deutscher Junge, deutsches Mädel!

Ihr alle kennt das Winterhilfswerk. Was sagt dieses Wort nicht alles! Für wieviele bedeutet dieses Wort ein Quell des Segens, der Freude, des Glücks. Wieviele trübe Augen leuchten auf bei diesem Wort, wieviele fassen neue Hoffnung, neuen Mut!

Diese ideale Tat steht einzig in der Welt da. Aber Ihr wißt, daß sie nur möglich ist, wenn jeder einzelne mithilft, sich dafür einsetzt, opfert. Denn wieviel Not ist zu lindern!

Ja, wißt Ihr denn, was Not ist! Ihr habt noch in keinem Winter gehungert, gefroren. Ihr wißt nicht, was das heißt, tagelang nichts als trockenes Brot zu essen, in einer kalten zugigen Dachstube zu wohnen und nicht einmal einen Mantel zu besitzen, um sich gegen die Kälte zu schützen - und trotzdem den Mut und den Glauben nicht zu verlieren!

Da ist es doch als Deutscher unsre Pflicht zu helfen! Darum hat unser Führer das Winterhilfswerk geschaffen, darum sind die vielen Sammlungen, bei denen auch Ihr Eure ganze Kraft entsetzen könnt, die Eintopfgerichte, die Arbeitshilfen. Was kann man doch alles tun! Jeder kann etwas spenden, sei es Geld, Lebensmittel, Kleider oder, und das kann der Ärmste, ein gutes Wort.

Es kommt nicht allein darauf an, daß Ihr gebt, sondern auch wie Ihr gebt! Eine kleine Gabe, mit herzlichen Worten und freundlichem Lächeln geschenkt, wiegt unendlich mehr als die größte Geldspende. Ihr glaubt kaum, wie dieses eine Wort den Armen beglückt, erfreut, sein sorgenvoller Blick wird heller, froh, er glaubt wieder an ein Besserwerden! Denn ohne diesen Glauben ist das Werk wertlos. Dieser Glaube war es, der den Nationalsozialismus schuf und den Bolschewismus vernichtete, und diesen Glauben müssen wir erhalten und stärken. Dabei müssen alle helfen, auch Ihr!

Was könnt Ihr in Eurer jungen Arbeitskraft nicht alles leisten, wenn Ihr nur eine Viertelstunde Eurer Freizeit opfert, um vielleicht einer Mutter mit vielen Kindern bei der Hausarbeit zu helfen, oder einem alten Mann Holz zu hacken, oder einem alten Mütterchen vielleicht vorzulesen, weil ihre schlechten Augen das nicht mehr schaffen. Euch wiegt das Opfer nichts, den Hilfsbedürftigen unendlich viel.

Ihr wißt alle, daß in einem Volk oberstes Gesetz ist: Einer für alle, alle für einen! Danach müssen wir auch handeln. Keiner darf sich von der Gemeinschaft des Volkes ausschließen! Denn ohne den einzelnen ist kein Volk. Daran denkt, wenn Ihr glaubt, Ihr hättet genug geopfert. Helft, wenn es auch manchmal schwer fällt, denkt daran, um wieviel besser es euch geht als manchem anderen. Habt Ihr noch nie die Freude des Schenkens empfunden!

Seid bereit zum Geben und Opfern, denn Nächstenhilfe ist Selbsthilfe, und bei allem helft Ihr Eurem Volk! Euer Leitwort sei: Ich bin nichts, mein Volk ist alles!

Jeder handle nach diesem Wort - und Segen liegt auf dem Volk.

Kommentar

Zunächst auffallend ist die Adressierung „Deutscher Junge, deutsches Mädel!“, die eine direkte Ansprache Jugendlicher darstellt. Die Herstellung sozialer Nähe wird durch die Verwendung der Personalpronomen Wir und Ihr hervorgebracht, wobei das zumeist in appellativem Zusammenhang gebrauchte Ihr überwiegt. Insbesondere jedoch an den Stellen, an denen durch das Modalverb müssen der Appellcharakter sehr explizit wird, schwenkt der Text auf ein inkludierendes Wir um. Die Autorin schließt sich selbst ein, positioniert sich damit als willfährige Erfüllerin ihres eigenen Appells. Dem zugrundeliegenden Kerngedanken des Spendenaufrufs „Einer für alle, alle für einen!“, in dem gleichsam an das kollektive Pflichtbewusstsein und die Verantwortung Einzelner appelliert wird, lässt sie ebenfalls einen inkludierenden Aufruf folgen: „Danach müssen wir auch handeln.“ Somit unterstreicht die Autorin die Inpflichtnahme der Adressierten und die Notwendigkeit deren Handelns.

Mit dem Ausdruck ‚Winterhilfswerk‘ scheint, so kennzeichnet der Text an mehreren Stellen geradezu metapragmatisch („Was sagt dieses Wort nicht alles!“), ein gemeinsames Hintergrundwissen verbunden. Die Ausgestaltung des Wissens über das WHW kommt der scheinbaren Etablierung oder Bezugnahme auf einen common ground gleich, die das über den gesamten Text mitgeteilte Wissen nicht nur als selbstverständlich, sondern ebenso als alternativlos darstellt („Ihr alle kennt […]“, „Ihr wisst alle, daß […]“). Demgegenüber steht die sprachliche Markierung von Nichtwissen in den Fällen, in denen es um das durch Spenden zu mildernde Leid geht („Ja wißt Ihr denn, was Not ist!“, „Ihr wißt nicht, was das heißt […]“). Wohlstandserfahrung wird hiermit einerseits den Adressierten unterstellt, andererseits als einseitige Lebenserfahrung dargestellt, wodurch die Notwendigkeit zu spenden erneut hervorgehoben wird.

Bereits im Einstieg werden mit dem Winterhilfswerk vor allem Emotionsausdrücke verbunden: „Segens“, „Freude“, „Glück“, „trübe Augen“, „Hoffnung“ oder „Mut“. Diesen Hochwertwörtern wird in der Folge adversativ („Aber“) Einsatz und Opferbereitschaft als Bedingung für die eröffnenden positiven Gefühle entgegengesetzt. Somit wird Einsatz gefordert, der emotiv entschuldet und zugleich legitimiert wird. Dies geht mit der Konstituierung von Gebenden und Nehmenden einher („Euch wiegt das Opfer nichts, den Hilfsbedürftigen unendlich viel“). Die hier zum Ausdruck kommende ‚Pflicht‘ und ‚Opferbereitschaft‘ sind Topoi, die nationalsozialistische Diskurse durchweg prägen (Maas 1984).

Zwar wird nicht ausgesprochen, dass die Nichtbeteiligung an der Sammelaktion negative Konsequenzen nach sich zieht. Jedoch wird Nichtbeteiligung als Gemeinschaftsausschluss präsupponiert („Keiner darf sich von der Gemeinschaft des Volkes ausschließen!“). Die Beteiligung wird schließlich durch die abstrahierende Idealisierung „Ich bin nichts, mein Volk ist alles!“ – was im Vergleich zu „ohne den einzelnen ist kein Volk“ widersprüchlich anmutet – motiviert, wodurch das Individuum im Kollektiv aufgeht. Das Winterhilfswerk schafft also mit den Sammelaktionen eine Möglichkeit zur Beteiligung an der und zur Einbindung in die Volksgemeinschaft, wie hier vor allem zu Abschluss des Textes hervorgehoben wird.

Der Aufsatz endet deontisch mit einer religiös aufgeladenen Aufforderung, einem „Segen“. Hier schließt sich nun der Kreis zum Beginn des Aufsatzes, wo zunächst das Winterhilfswerk selbst noch als „Quell des Segens“ bezeichnet wurde. Die Legitimierung des Winterhilfswerks erfährt ihren Abschluss somit auf einer sehr viel abstrakteren Ebene: Im nationalsozialistischen Ideal der Volksgemeinschaft.

Literaturverzeichnis

Primärquelle:

Walb, Lore (1997): Ich, die Alte - ich, die Junge. Konfrontation mit meinen Tagebüchern 1933 - 1945. Berlin: Aufbau Verlag (Aufbau-Taschenbücher, 1397).

Sekundärliteratur:

Maas, Utz (1985): „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand”: Sprache im Nationalsozialismus. Versuch einer Historischen Argumentationsanalyse. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Tennstedt, Florian (1987): Wohltat und Interesse. Das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes: Die Weimarer Vorgeschichte und ihre Instrumentalisierung durch das NS-Regime. In: Geschichte und Gesellschaft 13/2, S. 157-180.

Vorländer, Herwart (1986): NS-Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk des Deutschen Volkes. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34/3, S. 341-380.