November 2020

Ereignis und Emotion. Das Hitler-Attentat vom 8. November 1939

Bürgerbräukeller am Tag nach dem Anschlag 1939

Am 8. November 1939 scheiterte ein Sprengstoff-Attentat des Baden-Württemberger Schreiners und Widerstandskämpfers Georg Elser auf Adolf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller nur knapp. Hitler überlebte, da er den Saal wenige Minuten vorher verlassen hatte; Elser wurde von der Gestapo gefasst, gefoltert und im April 1945 ermordet. In den „Berichten zur innenpolitischen Lage“, die vom Sicherheitsdienst des Regimes regelmäßig erstellt wurden, heißt es am 13. November 1939: „Das Attentat von München hat im deutschen Volk das Gefühl der Zusammengehörigkeit stark gefestigt. […] Die Liebe zum Führer ist noch mehr gewachsen, und auch die Einstellung zum Krieg ist infolge des Attentates in vielen Kreisen noch positiver geworden. Gegen Großbritannien besteht eine ausgesprochene Haßstimmung.“ Ein gefestigtes „Gefühl der Zusammengehörigkeit“ und wachsende „Liebe zum Führer“ einerseits, Hass gegenüber Großbritannien, das von der NS-Propaganda als Drahtzieher des Attentats verdächtigt wurde, andererseits: Mit Bezug auf Emotionen, die der Bevölkerung zugeschrieben werden, wird hier Identität und Alterität konstruiert, gewissermaßen eine liebende ‚Volksgemeinschaft‘ und der gehasste Feind.

Je nach politischer Einstellung zum NS-Regime und sozialer Position innerhalb der Gesellschaft des ‚Dritten Reichs‘ variierte die Deutung des gescheiterten Attentats freilich erheblich, nicht zuletzt in ihrer emotionalen Dimension. Zwei Tagebucheinträge sollen dies verdeutlichen: Jochen Klepper bietet dabei als Ehemann einer Jüdin und somit Ausgeschlossener eine sehr viel emotionalisiertere Perspektive als der Dissident Friedrich Kellner, der einen eher distanzierten Blick auf die Reaktionen zum Attentat vom 8. November 1939 hat.

Grundsätzlich ist zu beachten, dass das Verschriftlichen von Emotionen eine andere Qualität besitzt als das direkte Wahrnehmen oder Erleben von Emotionen in einer konkreten Situation (Schwarz-Friesel 2013; Fiehler 1990). Die Verbalisierung von Emotionen stellt also immer auch eine Herausforderung hinsichtlich des Emotionsausdrucks dar und speziell das Verschriftlichen erschwert den Ausdruck nochmals durch Wegfall prosodischer Aspekte. Somit sind bei der Interpretation von Emotionsausdruck vor allem auch rhetorische Mittel, typographische Hervorhebungen oder auch Satzzeichen von Interesse.

Quelltext

Jochen Klepper (1956): Tagebucheintrag vom 09.11.1939.

„9. November 1939 / Donnerstag

Wenn ich mitten in der Angst wandle, so erquickst du mich.

Psalm 138, 7

Ja, mitten in der Angst!

Gestern abend, nach Hitlers Rede vor den Alten Kämpfern der Partei bei ihrer Erinnerungsfeier, ist in München im Bürgerbräukeller ein Sprengstoffattentat verübt worden, nachdem Hitler gerade vorzeitig aufgebrochen war. Man weiß noch nicht den Täter: aber was eben noch den Menschen, die davon erfuhren, durch den Sinn ging als erschreckender Gedanke, war nach einer Stunde publizierte Drohung: Strafe den Juden, Strafen, gegen die die Novembermaßnahmen des Vorjahres noch milde waren.

[…]

In der Stadt war so sehr merkwürdig, daß keinerlei Erregung oder Spannung wahrzunehmen war, außer daß mehr Menschen vor den Zeitungsaushängen standen. Kann man denn von Jahr zu Jahr so Schweres erleben – und immer weiter arbeiten – mit so zusammengepreßtem Herzen und betäubtem Kopf?

[…]

Eben hatte er [der Krieg] wieder ein neues Prädikat erhalten: ‚Der unkriegerische Krieg‘. Bald, sehr bald kann er der ‚totale Krieg mit allen Mitteln‘ sein. Stille – wir kennen seit langem immer wieder nur die Stille vor neuem Entsetzen.

Aber Gott war bei uns selbst immer wieder zur Seite.

[…]

Für was alles müssen wir in dieser Nacht vielleicht schon bangen? –“

Friedrich Kellner (2011): Tagebucheintrag vom 10.11.1939.

„Das angebliche Bomben-Attentat im Bürgerbräukeller hat keinen großen Eindruck hervorgerufen. Das Volk ist müde und mürb. Es ist schon zu viel ‚gemacht‘ worden. Der geistig regsamere Teil der Bevölkerung hat eigene Gedanken und glaubt nicht an ein wirkliches Attentat, sondern an eine Art Reichstagsbrand-Komödie, (in Scene gesetzt, um unliebsame Elemente verfolgen zu können).

[…]

Ich befürchte, daß irgend ein rücksichtsloser Schachzug in Vorbereitung ist, dessen Ausführung uns neue Gegner bringen wird. Der Weg zur Vernunft ist durch die Propaganda nicht passierbar.“

Kommentar

Tagebucheinträge sind als Textsorte geprägt durch emotives Vokabular. Das Bezeichnen oder Ausdrücken von Emotionen ist ein signifikantes Merkmal dieser Textsorte. Im Unterschied zum Bericht in der Einleitung, der in neutraler Art Emotionen ausschließlich beschreibt, geht es in den Tagebucheinträgen mehr um Expression, bei Klepper noch sehr viel mehr als bei Kellner.

Der einleitende Bibelpsalm zeigt dies exemplarisch. Klepper nutzt dieses intertextuelle Mittel zur Topikalisierung des Eintrags. Es wird durch den Psalm direkt zu Beginn das Thema ‚Angst‘ klargestellt. Die Hoffnung auf ‚Erquickung‘, also eine heilsame Freude, steht dabei als Ausweg aus der Angst aber noch aus. Klepper bestätigt sich selbst nach dem Psalm nochmals in der Emotion, wenn er schreibt „Ja, mitten in der Angst!“ Mit dem Ausrufezeichen und der vorangehenden Interjektion „Ja“ lässt sich „Angst“ hier nicht nur als quasi-psychologische Vokabel (vgl. Hermanns 2012, S. 136f.) verstehen, sondern als exklamierter Emotionsausdruck.

Nach einer kurzen, neutralen Zusammenfassung der Ereignisse folgt die Wirkung auf die „Menschen, die davon erfuhren“. Klepper verallgemeinert also seinen Eindruck und vielleicht den von Bekannten auf alle, die die Neuigkeiten rezipierten. Dabei wird die furchterregende Antizipation („erschreckender Gedanke“) in Folge der Ereignisse zu einer realen Einschüchterung („publizierte Drohung“). Letzteres wird direkt darauf, eingeleitet mit einem Doppelpunkt, näher erläutert: Es geht um „Strafe den Juden, Strafen, gegen die die Novembermaßnahmen des Vorjahres noch milde waren.“ Das Wort Strafe wird durch Wiederholung betont und somit der erschrockene Eindruck Kleppers verdeutlicht, den diese erneuten Strafen, die härter seien als die des Vorjahres, auf ihn haben.

Der Eindruck wiederum, den die Öffentlichkeit auf Klepper macht, ist ein resignierter. Es gibt „keinerlei Erregung oder Spannung“ und dies führt bei Klepper zu Verwunderung, weil er andere Reaktionen erwartet, wenn „von Jahr zu Jahr so Schweres“ erlebt wird. Der Eindruck der Resignation wird in der unbeantworteten Frage metaphorisch mit der topischen Variation „zusammengepreßtem Herzen und betäubtem Kopf“ beschrieben. Die rhetorische Frage drückt dabei Verzweiflung aus.

Angst und Verzweiflung ziehen sich weiter durch den Tagebucheintrag. Klepper antizipiert, eingeleitet mit einem hyperbolischen „Bald, sehr bald“, dass der Krieg ein „‚totale[r] Krieg mit allen Mitteln‘ sein“ könne, was er ein paar Jahre später mit Goebbels‘ Sportpalastrede auch werden wird. Gefolgt wird die Antizipation von „Stille –“. Der Gedankenstrich ist graphematisches Sinnbild für die Bedeutung des Wortes. Es handelt sich, wie Klepper ausführt, um „die Stille vor neuem Entsetzen“. Das vorangehende „seit langem immer wieder nur“ kombiniert eine große, unbestimmte Zeitangabe mit Stetigkeit, Repetition sowie Ausschließlichkeit und unterstreicht damit, wie Klepper von dieser empfundenen Stille vor dem Entsetzen zermürbt wird. Etwas Hoffnungsvolles findet er darin, dass „Gott […] immer wieder zur Seite“ war.

Klepper beendet diesen Tagebucheintrag wiederum mit einer ins Leere laufenden Frage, die nochmal das emotive Thema vom Anfang aufgreift, indem gefragt wird, „für was [zu] bangen“ ist. Die Abtönungspartikel „schon“ (vgl. Duden 2016, §875) überträgt die Ungewissheit, die diese letzte Frage ausdrückt, in einem antizipatorischen Akt auf die Zukunft, nicht nur auf die kommende Nacht, sondern die kommenden Jahre.

Der zweite Tagebucheintrag von Friedrich Kellner zeigt eine distanziertere, weniger emotional involvierte Perspektive auf das „angebliche Bomben-Attentat“. Kellner drückt direkt zu Beginn Skepsis und somit die Vermutung aus, es könne sich um ein inszeniertes Attentat gehandelt haben. Es hat zudem „keinen großen Eindruck hervorgerufen“, denn das „Volk ist müde und mürb“. Hier zeigt sich also ebenfalls die Resignation, die schon bei Klepper auszumachen war, jedoch ist Kellner hier nicht verwundert darüber, sondern Teil davon. Er zählt sich zum „geistig regsamere[n] Teil der Bevölkerung“, der „eigene Gedanken“ hat und „nicht an ein wirkliches Attentat“ glaubt. Hier zeigt sich also wiederum die Skepsis und zugleich die Vermutung, dass es sich um „eine Art Reichstagsbrand-Komödie“ handeln könne. Das Attentat wird also als propagandistisches Mittel abgewertet und ist, zumindest als Attentat, nicht ernst zu nehmen.

Die Befürchtung Kellners ist, dass es sich um die Vorbereitung eines „rücksichtslose[n] Schachzug[s]“ handele, der „uns [also Deutschland] neue Gegner bringen wird“. Während Klepper vor den Folgen des Attentats bezüglich der Strafen gegenüber Juden ‚bangt‘ und ‚Angst‘ hat, ‚befürchtet‘ Kellner das Aufkommen neuer Gegner. Einerseits ist somit die Stärke der Emotion verschieden, andererseits unterscheidet sich auch die Ausrichtung, also um was gebangt bzw. was befürchtet wird. Des Weiteren gründete sich die Hoffnung Kleppers auf Gottvertrauen, während Kellner auf Vernunft hofft, die über Propaganda nicht erreichbar sei. Klepper verwendet dabei durch den Bibelpsalm ebenso eine Weg-Metapher („mitten in der Angst wandle“) wie Kellner („Der Weg zur Vernunft“). Es zeigt sich, dass die emotive Verfasstheit der Autoren mit ihrer jeweiligen Akteursspezifität, also Klepper als Ausgeschlossener und Kellner als Dissident, verknüpft ist.

Literaturverzeichnis

Primärquellen

Kellner, Friedrich (2011): Tagebucheintrag vom 10.11.1939. In: „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne“. Tagebücher 1939-1945. Bd. 1. Hrsg. von Sascha Feuchert und Martin Scott Kellner. Göttingen: Wallstein. S. 46-47.

Klepper, Jochen (1956): Tagebucheintrag vom 09.11.1939. In: Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932-1942. Hrsg. von Hildegard Klepper. Berlin/Darmstad/Wien: Deutsche Buch-Gemeinschaft. S. 816-817.

Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (1984): Bericht zur innenpolitischen Lage (Nr. 15) 13. November 1939. In: Meldungen aus dem Reich 1938-1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. Bd. 3. Hrsg. von Heinz Boberach. Herrsching: Pawlak. S. 449-456.

Sekundärliteratur

Reinhard Fiehler (1990): Kommunikation und Emotion. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Rolle von Emotionen in der verbalen Kommunikation. Berlin/New York: De Gruyter.

Hermanns, Fritz (2012): Der Sitz der Sprache im Leben. Beiträge zu einer kulturanalytischen Linguistik. Hrsg. von Heidrun Kämper, Angelika Linke und Martin Wengeler. Berlin/Boston: De Gruyter. S. 136-147.

Nübling, Damaris (2016): Die nicht flektierbaren Wortarten. In: Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. Bd. 4. 9. Aufl. Hrsg. von Angelika Wöllstein und Dudenredaktion. Berlin: Dudenverlag. §875.

Monika Schwarz-Friesel (2013): Sprache und Emotion. Tübingen/Basel: UTB.