März 2020

März 1933. "Märzgefallene"

Aufbahrung der Märzgefallenen, Gemälde von Adolph Menzel von 1848

Nach der Regierungsübernahme durch Adolf Hitler am 30. Januar 1933 und besonders nach den Reichstagswahlen am 5. März 1933 erlebte die NSDAP eine Beitrittswelle. Zu den rund 850.000 Mitgliedern, die bereits vor der „Machtübernahme“ der NSDAP zugehörten, kamen in den Monaten bis zur Mitgliedersperre am 1. Mai 1933 fast zwei Millionen neue Mitglieder hinzu. Dies führte allerdings zu Spannungen innerhalb der Partei, denn vor allem die als „alte Kämpferinnen“ und „Kämpfer“ geltenden langjährigen Anhänger*innen standen den neu eingetretenen Mitgliedern höchst skeptisch gegenüber. Letztere konterkarierten nicht zuletzt ihre eigenen Selbsterzählungen einer opfer- und entbehrungsreichen „Kampfzeit“, in der sie dennoch stets der „Bewegung“ die Treue gehalten hätten, wofür sie jetzt ideelle und materielle Anerkennung erwarteten.
Während Parteiführung und nationalsozialistische Presse im Frühjahr 1933 zwischen der Werbung zum Eintritt in die Partei und Warnungen vor dem „Ansturm der Gesinnungstüchtigen“ (Völkischer Beobachter vom 30. April 1933) schwankten, verbreitete sich für die in dieser Phase neu eingetretenen Mitglieder die inoffizielle Bezeichnung „Märzgefallene“ (seltener auch „Maiveilchen“). Anspielend auf die „Märzgefallenen“ der Revolution von 1848 verdeutlicht die Bezeichnung das zeitliche Ordnungselement nationalsozialistischer Zugehörigkeitsdiskurse. Bereits zur Zeit der Weimarer Republik hatte beispielsweise Goebbels in einem Zeitungsartikel über die „Septemberlinge“ gelästert, die sich erst nach dem Wahlerfolg der NSDAP im September 1930 zur nationalsozialistischen Partei bekannt hätten. Umso mehr galten nunmehr die nach der „Machtergreifung“ der Partei Beigetretenen als Opportunisten, die ihre Zugehörigkeit und Loyalität erst beweisen mussten.
Dass die Abgrenzung zu dieser Personengruppe mitunter offensiv zur Markierung der eigenen Zugehörigkeit verwendet wurde, zeigen die folgenden Textauszüge. Sie stammen aus einem Bericht, den Kurt M. im März 1935 über seine Ehefrau zu seiner Verteidigung an den „Stellvertreter des Führers“, Rudolf Heß, schicken ließ: Ende 1934 hatte er „wegen Sabotierung des Winterhilfswerks und Verächtlichmachung des Hitlergrußes“ kurze Zeit in „Schutzhaft“ verbracht und bemühte sich danach um seine Rehabilitierung. Zu seiner Rechtfertigung brachte er vor, dass er „als alter Nationalsozialist“ in seinem Betrieb von den „Roten“ gemobbt worden war, namentlich von seinem Widersacher R., der auch seine Verhaftung vorangetrieben habe:

Quellentext

„Als nun die nationale Revolution kam, war natürlich auch R. über Nacht zu dem überzeugtesten Nationalsozialisten geworden. Ich war inzwischen wegen einer nichtigen Sache – ich hatte einem Pg., der mich gereizt hatte, eine leichte Ohrfeige gegeben, deren Berechtigung er übrigens anerkannt hatte – zu Unrecht und ohne jedes Uschla-Verfahren [Untersuchungs- und Schließungsausschuss, Anm. d. Verf.] aus der NSDAP ausgeschlossen worden. Nun glaubte natürlich die rote Meute ihr Spiel gewonnen. Wo ich ging und stand, wurde mir in provozierendster Art und Weise der Deutsche Gruss angetragen. Ich erwiderte ihn natürlich nicht, weil ich die Leute genau kannte. […]
Nun zur Verächtlichmachung des Deutschen Grusses!

Oben erwähnte ich schon, dass nach dem Umschwung die übergelaufenen Roten nun glaubten, ihr trauriges Mütchen an mir kühlen zu können. Auf Schritt und Tritt wurde ich von diesen ‚Märzgefallenen‘ mit dem Deutschen Gruss überhäuft. Es war natürlich nur Hohn und Provokation. Und so schwer es mir fiel, hielt ich mich doch meistens zurück, weil ich wusste, dass sie nur auf eine Gelegenheit warteten, mich anzuschwärzen. Nur hin und wieder habe ich mich doch zu einer mündlichen Abwehr hinreißen lassen, die natürlich nicht sehr milde klang. Worte wie ‚Nachgemachte Nationalsozialisten‘, ‚Nachgeburten‘, ‚Märzgefallene‘, ‚Ihr müsst erstmal Nationalsozialisten werden‘ usw. Das galt natürlich nur der Person der einzelnen Provokanten, niemals etwa dem Deutschen Gruss als solchem. In derselben Richtung liegt es, wenn ich einmal gesagt habe, dass ‚wenn mein Hund die Vorderpfote hochhebt (wie er es tut, wenn er um etwas bettelt), so ist mir das lieber, als wenn ihr roten Brüder mir mit dem Deutschen Gruss kommt.‘“

Kommentar

In dieser Konfliktsituation wird sehr gut deutlich, welche Argumentationsmuster angewendet wurden, um innerhalb der Parteimitgliedschaften zeitlich zu differenzieren und damit Zugehörigkeit und Legitimität zu beanspruchen oder anderen abzusprechen. Sich selbst als „alten Nationalsozialisten“ ausweisend, markiert Kurt M. seine Kontrahenten als ehemalige Kommunisten oder Sozialdemokraten, die sich nun „über Nacht“ zu „überzeugtesten Nationalsozialisten“ gewandelt hätten – aus seiner Sicht natürlich nur zum Schein. Dadurch verlängert er das Narrativ eines Abwehrkampfes gegen „die Roten“, die nun als „Märzgefallene“ sogar über einen „alten Kämpfer“ triumphierten, in die nationalsozialistische Herrschaftszeit.

Mit dieser Darstellung erzielte Kurt M. durchaus einen Teilerfolg: Von der Parteileitung wurde ihm in Aussicht gestellt, ihn nach Lockerung der Aufnahmesperre wieder in die Partei aufzunehmen.  Voraussetzung dafür sei jedoch, „dass er sich in letzter Zeit einwandfrei verhalten hat und ein gutes Zeugnis der zuständigen Ortsgruppe und Kreisleitung beibringen kann.“

Literaturverzeichnis

Primärquellen:

Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, Microfiche-Edition, Band 1.1, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München 1983, Microfiche-Nr. 124 02554-124 02559.

Sekundärliteratur:

Weigel, Björn: „Märzgefallene“ und Aufnahmestopp im Frühjahr 1933. Eine Studie über den Opportunismus, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt am Main 2009, S. 91-109.