Juni 2020

Juni 1934. Sozialer Druck und Zwang in der Hitlerjugend

Zeltlager der Hitlerjugend, Deutsches Jungvolk (Pimpfe), 1933

Um die Legitimität des eigenen Machtanspruchs zu demonstrieren, war es für das nationalsozialistische Regime von zentralem Interesse, die Teilhabe der Bevölkerung an NS-Organisationen als freiwillige Entscheidung zu propagieren. Es sollte zunächst der Anschein erweckt werden, dass niemand zur Partizipation mit den neugegründeten NS-Organisationen gezwungen sei, um einen möglichst allumfassenden Teil der Bevölkerung für die eigene Sache zu gewinnen. Dieser Ansatz betraf auch die Jugendverbände, wie bspw. die Hitler-Jugend. So erklärte Reichsjugendführer Baldur von Schirach am 29.08.1934 während einer Rundfunkrede: „[…] Wer zur Hitler-Jugend kommt, soll aus freiem Antrieb, ohne jeden Zwang, in unsre Gemeinschaft eintreten.“

Entgegen dieser Aussage von Schirachs lassen sich jedoch bereits für das Jahr 1934 Quellenberichte anführen, die eindeutig belegen, wie aggressiv und drohend sich die Hitlerjugend gegenüber Nicht-Mitgliedern äußerte.
Aus sprachwissenschaftlich-historischer Sicht ist es von besonderem Interesse herauszufinden, auf welche sprachlichen Mittel die NS-Organisationen zurückgriffen, um Druck auf die bislang neutrale oder kritische Bevölkerung auszuüben.

Quellentext

Der angeführte Quellenauszug stammt aus den Deutschlandberichten der SOPADE. Er zeigt das Schreiben eines HJ-Scharführers an einen zwölfjährigen Jungen aus Berne vom 16.06.1934.

Lieber Jugendgenosse ...! .
Immer stehst Du noch nicht in unseren Reihen! Meinst du vielleicht, Du hättest es nicht nötig, Dich in unsere große Gemeinschaft der Jugend einzuordnen? Es ist der Wunsch des Führers, die gesamte deutsche Jugend in der Hitler-Jugend zusammengefaßt zu sehen. Dieser Wunsch ist uns Befehl! Es gibt nur eine Jugend, und das ist die Hitler-Jugend.
Wir nehmen jeden deutschen Jungen freudig auf, ziehen einen dicken Strich unter seine persönliche Vergangenheit, wenn er gewillt ist, sich mit ganzer Kraft für unser Ziel einzusetzen. In unserer Kameradschaft wollen wir uns vorbereiten für die große Aufgabe, die Volk und Staat einst an uns stellen werden. Dieses Ziel werden wir in harter Rücksichtslosigkeit gegen uns selbst verfolgen; wir wollen aber auch auf der anderen Seite keine jugendlichen "Spießer" dulden. 

Ich fordere Dich hiermit auf, Dich bis zum Freitag, dem 22.6.34 zu bekennen, aus welchen Gründen Du der Hitler-Jugend fern bleibst. Am Freitag wirst Du über unser Ziel und Wollen Näheres auf unserem Scharabend um 20.00 Uhr in der Berner Schule erfahren. Es ist dieses die letzte Mahnung, die an Dich ergeht. Ich hoffe aber, daß wir auch Dich am Freitag als neuen Kameraden begrüßen dürfen.
    Heil Hitler!
   Der Führer der Schar 4 "Graf Luckner"
    gez. Willi Delfo (Scharführer)

Quelle: Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1934-1940. Erster Jahrgang (1934). S. 558f.

Kommentar

Das Schreiben der HJ ist durch einen steten Wechsel zwischen freundlichen Angeboten und zum Teil deutlich vorgebrachten Drohungen an den Jungen geprägt. So wird dieser zunächst freundlich mit „Lieber Jugendgenosse…!“ angesprochen. Die Verwendung des Ausdrucks „(Jugend-)Genosse“ impliziert, dass der Junge durchaus als Teil der Gemeinschaft angesehen werden könnte. 

Bereits im ersten Satz wird das bisherige Fernbleiben des Jungen von den Treffen der HJ jedoch verurteilt. Die HJ sieht sich als ausführendes Organ für die Befehle Hitlers. Es ist ihr Ziel, die gesamte deutsche Jugend zu bündeln. Die Formulierung „Es gibt nur eine Jugend, und das ist die Hitler-Jugend“ impliziert dabei, dass ein Eintritt alternativlos ist. Die bisherige Verweigerung des Jungen wird als Affront wahrgenommen. 

Im nächsten Absatz biedert sich die HJ zunächst freundlich an. Sollte sich der Junge bereiterklären in die HJ einzutreten, so ziehe diese einen „dicken Strich unter seine persönliche Vergangenheit“. Unabhängig von den bisherigen Geschehnissen würde dem Jungen also ein unbefangener Neustart in der HJ ermöglicht.
Von besonderem Interesse ist die Formulierung, dass die HJ zum einen ihre Ziele in „harter Rücksichtslosigkeit“ gegenüber sich selbst verfolgen und zum anderen keine jugendlichen „Spießer“ dulden will. Mit dem Begriff der jugendlichen „Spießer“ könnten zum einen Jugendliche gemeint sein, die sich nicht mit vollem Ehrgeiz den Zielen der HJ verschreiben möchten. Möglich ist ebenfalls, dass sich die HJ von „Spießern“ distanzieren wollte, um zu vermitteln, dass es bei ihren Veranstaltungen, neben den angesprochenen Zielen, auch um Spaß und Abenteuer gehe. 

Im letzten Absatz wird der Druck auf den Zwölfjährigen nochmal erhöht. Dieser habe sich bis zu einem der kommenden Treffen zu bekennen, warum er der HJ fernbleibe. Es wird vom Jungen erwartet, dass er bei einem HJ-Treffen erscheint und sich dort für sein bisheriges Fernbleiben rechtfertigt. Dies stellt eine enorme Druck- und Zwangssituation dar. Das Schreiben wird zudem als „letzte Mahnung“ bezeichnet. Gleichzeitig lassen sich aus dem Schreiben keine expliziten Konsequenzen schließen, die die HJ auf ein erneutes Fernbleiben folgen lassen könnte.
Der Brief endet schließlich in einer versöhnlichen Art. Der Scharführer spricht seine Hoffnung aus, dass sich der Junge der HJ anschließt und somit keine Konsequenzen notwendig sein werden. Von besonderer Relevanz ist an dieser Stelle die Formulierung „[..] daß wir auch dich […]“. Der Gebrauch des Wortes „auch“ impliziert, dass der Junge nicht der Erste ist, der ein solches Schreiben erhalten hat, und sich anschließend der HJ anschloss. Dies vermittelt auf subtile Weise die Unausweichlichkeit einer Partizipation mit der HJ. 

Das vorliegende Schreiben ist eines von zahlreichen Beispielen, welches aufführt, wie bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt im NS-Regime Zwang und sozialer Druck auf die Bevölkerung ausgeübt wurde. Selbst vor Kindern und Jugendlichen machte der NS-Apparat nicht Halt. Wie der Zwölfjährige aus dem Quellenbeispiel, so wurden wohl zahllose Kinder mit derartigen Schreiben, die zwischen scheinbar freundlicher Einladung und vehementem Drohbrief – ohne in diesem Fall jedoch konkrete Konsequenzen anzukündigen – schwankten, konfrontiert. Von einer auf reiner Freiwilligkeit beruhenden Teilhabe an NS-Organisationen konnte bereits 1934 keine Rede sein.

Literaturverzeichnis

Maas, Utz: „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand“. Sprache im Nationalsozialismus. Versuch einer historischen Argumentationsanalyse, Opladen: Westdeutscher Verlag 1984.