Juli 2020

20. Juli 1944 - Konstituierung eines "schicksalhaften" Ereignisses

Blick in den Innenhof des Bendlerblocks

Wohl kein anderes Datum wird in der populären Wahrnehmung und massenmedialen Aufbereitung so stark mit dem Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime assoziiert wie der 20. Juli 1944, der Tag an dem Claus Schenk Graf von Stauffenberg die Pläne eines Kreises von Regimegegnern in die Tat umsetzte und eine Sprengladung im Führerhauptquartier zündete, die Hitler allerdings nur leicht verletzte. Spätestens seit dem 60. Jahrestag dieses Datums 2004 sowie der Verfilmung „Operation Walküre“ (2008) mit Tom Cruise in der Hauptrolle hat sich eine breite gesellschaftliche Wertschätzung für die in das Vorhaben zum Sturz des NS-Regimes involvierten Personen etabliert. Dies war allerdings nicht immer so. Noch bis weit in die Nachkriegszeit hinein hielt sich eine überwiegend negative Deutung der „Männer des 20. Juli“ in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung (sofern sie überhaupt bekannt waren). Vielfach wurden sie diffamiert und ihre Tat als „Verrat“ ausgelegt (vgl. Baur 2007; Tuchel 2014).
Diese Deutungslinie war bereits unmittelbar nach dem Anschlag durch Hitler selbst sowie die anschließende Presseberichterstattung verbreitet worden. Die Analyse der Rundfunkansprache, die Hitler noch in der Nacht zum 21. Juli 1944 hielt, zeigt, wie das Attentat und der geplante Umsturz als Tat einer unbedeutenden „Verbrecherclique“ denunziert wurden, deren Gelingen „Schreckliches“ für Deutschland bedeutet hätte. Gegenüber diesen „Elementen“ sollte nun Härte und Entschlossenheit demonstriert werden. Sein eigenes Überleben stellte Hitler als schicksalhaft dar. Ein weiteres Mal meinte er unter Verwendung religiöser Semantiken behaupten zu können, dass die „Vorsehung“ ihn für Deutschland ausersehen hätte (vgl. Rißmann 2001). Insgesamt lässt sich anhand der Rede verdeutlichen, wie ein Ereignis von Seiten des Regimes sprachlich konstituiert, d.h. mit einer spezifischen Bedeutung versehen wurde. Hieran hätte eine Betrachtung der zeitgenössischen Berichterstattung in der NS-Presse, aber auch der Rezeption und Interpretation des Ereignisses in Briefen, Tagebüchern und alltäglicher Kommunikation anzuschließen.

Quellentext

„Deutsche Volksgenossen und -genossinnen!
Ich weiß nicht, zum wievielten Male nunmehr ein Attentat auf mich geplant und zur Ausführung gekommen ist. Wenn ich heute zu Ihnen spreche, dann geschieht es aus zwei Gründen:

 
1. Damit Sie meine Stimme hören und wissen, daß ich selbst unverletzt und gesund bin.


2. Damit Sie aber auch das Nähere erfahren über ein Verbrechen, das in der deutschen Geschichte seinesgleichen sucht.
Eine ganze kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab praktisch der deutschen Wehrmachtführung auszurotten. Die Bombe, die von dem Oberst Graf v. Stauffenberg gelegt wurde, krepierte zwei Meter an meiner rechten Seite. Sie hat eine Reihe mir teurer Mitarbeiter sehr schwer verletzt, einer ist gestorben. Ich selbst bin völlig unverletzt bis auf ganz kleine Hautabschürfungen, Prellungen oder Verbrennungen. Ich fasse es als eine Bestätigung des Auftrages der Vorsehung auf, mein Lebensziel weiter zu verfolgen, so wie ich es bisher getan habe. Denn ich darf es vor der ganzen Nation feierlich gestehen, daß ich seit dem Tage, an dem ich in die Wilhelmstraße einzog, nur einen einzigen Gedanken hatte, nach bestem Wissen und Gewissen meine Pflicht zu erfüllen, und daß ich, seit mir klar wurde, daß der Krieg ein unausbleiblicher war und nicht mehr aufgeschoben werden konnte, eigentlich nur Sorge und Arbeit kannte und in zahllosen Tagen und durchwachten Nächten nur für mein Volk lebte!
Es hat sich in einer Stunde, in der die deutschen Armeen in schwerstem Ringen stehen, ähnlich wie in Italien, nun auch in Deutschland eine ganz kleine Gruppe gefunden, die nun glaubte, wie im Jahre 1918 den Dolchstoß in den Rücken führen zu können. Sie hat sich diesmal aber schwer getäuscht. Die Behauptung dieser Usurpatoren, daß ich nicht mehr lebe, wird jetzt in diesem Augenblick widerlegt, da ich zu euch, meine lieben Volksgenossen, spreche. Der Kreis, den diese Usurpatoren darstellen, ist ein denkbar kleiner. Er hat mit der deutschen Wehrmacht und vor allem auch mit dem deutschen Heer nichts zu tun. Es ist ein ganz kleiner Klüngel verbrecherischer Elemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet werden. Ich befehle daher in diesem Augenblick:
1. Daß keine Zivilstelle irgendeinen Befehl entgegenzunehmen hat von einer Dienststelle, die sich diese Usurpatoren anmaßen.
2. Daß keine Militärstelle, kein Führer einer Truppe, kein Soldat irgendeinem Befehl dieser Usurpatoren zu gehorchen hat, daß im Gegenteil jeder verpflichtet ist, den Übermittler oder den Geber eines solchen Befehls entweder sofort zu verhaften oder bei Widerstand augenblicklich niederzumachen.


Ich habe, um endgültig Ordnung zu schaffen, zum Befehlshaber des Heimatheeres den Reichsminister Himmler ernannt. Ich habe in den Generalstab Generaloberst Guderian berufen, um den durch Krankheit zur Zeit ausgefallenen Generalstabschef zu ersetzen, und einen zweiten bewährten Führer der Ostfront zu seinem Gehilfen bestimmt.
In allen anderen Dienststellen des Reiches ändert sich nichts. Ich bin der Überzeugung, daß wir mit dem Austreten dieser ganz kleinen Verräter- und Verschwörer-Clique nun endlich aber auch im Rücken der Heimat die Atmosphäre schaffen, die die Kämpfer der Front brauchen. Denn es ist unmöglich, daß vorn Hunderttausende und Millionen braver Männer ihr letztes hergeben, während zu Hause ein ganz kleiner Klüngel ehrgeiziger, erbärmlicher Kreaturen diese Haltung dauernd zu hintertreiben versucht. Diesmal wird nun so abgerechnet, wie wir das als Nationalsozialisten gewohnt sind.
Ich bin überzeugt, daß jeder anständige Offizier, jeder tapfere Soldat in dieser Stunde das begreifen wird.


Welches Schicksal Deutschland getroffen hätte, wenn der Anschlag heute gelungen sein würde, das vermögen die wenigsten sich vielleicht auszudenken. Ich selber danke der Vorsehung und meinem Schöpfer nicht deshalb, daß er mich erhalten hat – mein Leben ist nur Sorge und ist nur Arbeit für mein Volk –, sondern, wenn ich danke, nur deshalb, daß er mir die Möglichkeit gab, diese Sorgen weiter tragen zu dürfen und in meiner Arbeit weiter fortzufahren, so gut ich das mit meinem Gewissen und vor meinem Gewissen verantworten kann.
Es hat jeder Deutsche, ganz gleich, wer er sein mag, die Pflicht, diesen Elementen rücksichtslos entgegenzutreten, sie entweder sofort zu verhaften oder – wenn sie irgend wie Widerstand leisten sollten – ohne weiteres niederzumachen. Die Befehle an sämtliche Truppen sind ergangen. Sie werden blind ausgeführt, entsprechend dem Gehorsam, den das deutsche Heer kennt.
Ich darf besonders Sie, meine alten Kampfgefährten, noch einmal freudig begrüßen, daß es mir wieder vergönnt war, einem Schicksal zu entgehen, das nicht für mich Schreckliches in sich barg, sondern das den Schrecken für das deutsche Volk gebracht hätte.
Ich ersehe daraus auch einen Fingerzeig der Vorsehung, daß ich mein Werk weiter fortführen muß und daher weiter fortführen werde!“

Kommentar

Die Eröffnung der Ansprache ist ambivalent: Einerseits rückt Hitler das Attentat in eine Reihe von Anschlägen, verharmlost also dessen besondere Bedeutung. Andererseits bezeichnet er es kurz darauf als „Verbrechen, das in der deutschen Geschichte seinesgleichen sucht.“ Im weiteren Verlauf der Ansprache wird die Ambivalenz in der Bewertung nicht gänzlich aufgelöst. Allerdings wird deutlicher, worin das Außergewöhnliche dieses Anschlags für Hitler besteht und warum ihm laut Hitler eine schicksalhafte Bedeutung zukommt.


1. Viele der an der Planung des Umsturzversuchs Beteiligten kamen aus den Reihen des Militärs. Um dem Eindruck eines grundsätzlichen Bruchs zwischen NS-Führung und Wehrmacht entgegenzuwirken, spielte Hitler die Bedeutung und das Ausmaß der Widerstandskreise herunter. Pejorativ kennzeichnete er sie als „ganze kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere“, als „ganz kleine[n] Klüngel verbrecherischer Elemente“ bzw. als „ganz kleine[…] Verräter- und Verschwörer-Clique“. Sie hätten mit der deutschen Wehrmacht und dem deutschen Heer „nichts zu tun“. Vielmehr rekurriert Hitler auf die weit verbreitete Dolchstoßlegende, nach der „Kommunisten“, „Juden“ und andere das im Kampf unbesiegte Heer am Ende des Ersten Weltkriegs im Herbst 1918 verraten hätten. Die „Verbrecher-Clique“ habe auch dieses Mal den Umsturz unternommen, während an der Front „Hunderttausende und Millionen braver Männer ihr letztes hergeben“ würden. Die Urheber der Umsturzpläne werden damit in Gegensatz zu „anständige[n] Offizieren“ und „tapfere[n] Soldaten“ gebracht.


2. Sein Überleben stellte Hitler als „Bestätigung des Auftrages der Vorsehung“ dar, sein „Lebensziel weiter zu verfolgen“ (siehe auch die Schlusspassage). Anknüpfend an einen bereits vorher etablierten Diskursstrang des Führerkults, der auch von Hitler in einer Vielzahl von Reden bedient wurde, wird eine Kongruenz hergestellt zwischen der Person Hitlers, der Erfüllung seines „Werks“ sowie dem Wohlergehen von „Nation“ und „Volk“. Dies hatte offensichtlich eine quasi-religiöse Dimension, wie besonders in jener Passage deutlich wird, in der Hitler der „Vorsehung“ sowie seinem „Schöpfer“ dankt, allerdings „nicht deshalb, daß er mich erhalten hat – mein Leben ist nur Sorge und ist nur Arbeit für mein Volk –, sondern, wenn ich danke, nur deshalb, daß er mir die Möglichkeit gab, diese Sorgen weiter tragen zu dürfen und in meiner Arbeit weiter fortzufahren“.


3. Zugleich wird eine Schicksalhaftigkeit des Ereignisses, vor allem des Überlebens Hitlers, konstruiert. Das Schicksalhafte resultiert primär aus der aktuellen Kriegssituation, „einer Stunde, in der die deutschen Armeen in schwerstem Ringen stehen“. Hier wird eine ‚Was-wäre-wenn‘-Situation imaginiert, deren Ausmaße lediglich angedeutet werden („das vermögen die wenigsten sich vielleicht auszudenken“; „das den Schrecken für das deutsche Volk gebracht hätte“).


4. Schließlich versucht Hitler Härte und Entschlossenheit gegenüber möglichen Unterstützerkreisen zu demonstrieren. Die Ansprache enthält also deutliche Drohungen, gekleidet in martialisch-exterminatorisches Vokabular. Die „verbrecherischen Elemente“ sollen „unbarmherzig ausgerottet“ und „niedergemacht“ werden, mit ihnen werde „nun so abgerechnet, wie wir das als Nationalsozialisten gewohnt sind.“

Insgesamt wird in der Rundfunkansprache Hitlers eine Deutung des gescheiterten Anschlags (und des darauffolgenden Umsturzversuchs) präfiguriert, die durchaus Wirkmächtigkeit entfaltete. Vor allem die Interpretation der involvierten Widerstandskreise als unehrenhafte „Verräter“ hielt sich in weiten Teilen der Bevölkerung bis weit in die Nachkriegszeit hinein. Um genauer zu erfahren, welche Deutungskomponenten zeitgenössisch angenommen, welche angezweifelt wurden, müsste eine große Zahl weiterer Quellen berücksichtigt werden. Hier soll abschließend lediglich ein Beispiel einer weitgehenden Kongruenz zitiert werden.

Noch am 20.7.1944 schrieb Irene Guicking an ihren Mann an der Front: „Mein lieber Schatz, was sagst Du zu dem entsetzlichen Attentat? Mußte das sein? Es wollen so viele gescheite Köpfe Einfluß haben. Ob die in der Generalität, die etwas zu sagen haben, den Kopf verloren haben. Wahrscheinlich wird es aber den Maßgeblichen den Kopf kosten. Wir, das Volk, verstehen ja nichts von der militärischen Strategie und noch viel weniger von der Diplomatie. Aber, mein Lieber glaube mir, als wir aus dem Wald kamen, Mutti empfing uns mit dieser Sondermeldung, mir war es so weich in den Knochen geworden. Wir können nur hoffen, daß es unter den Feldgrauen still bleibt. Weißt Du, ich muß unwillkürlich an das Ende des 1. Weltkrieges denken. So, wie wir darüber lesen konnten, daß die Marine gemeutert hat. Sind die Zeiten nicht ernst genug? Muß nun dieses Ereignis noch hinzukommen? Mein lieber Schatz, ich muß mich davon abwenden von diesem verhängnisvollen Geschehen. Es kann verhängnisvoll werden. Oh Gott, bloß das nicht.“

Literaturverzeichnis

Primärquellen:

Adolf Hitler, Rundfunkansprache zum Attentat vom 20. Juli 1944, 21. Juli 1944, 1.00 Uhr, abgedruckt in: Domarus, Max (Hg.): Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Kommentiert von einem Deutschen Zeitgenossen, Band II, Zweiter Halbband 1941-1945, München 1965, S. 2127-2129.

Irene Guicking an Ernst Guicking, 20.7.1944, in: Kleindienst, Jürgen (Hg.): Sei tausendmal gegrüßt. Briefwechsel Irene und Ernst Guicking 1937-1945, CD-ROM, Berlin 2018.

Sekundärliteratur:

Baur, Tobias: Das ungeliebte Erbe. Ein Vergleich der zivilen und militärischen Rezeption des 20. Juli 1944 im Westdeutschland der Nachkriegszeit. Frankfurt am Main 2007.

Rißmann, Michael: Hitlers Gott. Vorsehungsglaube und Sendungsbewusstsein des deutschen Diktators, Zürich/München 2001.

Tuchel, Johannes: Zwischen Diffamierung und Anerkennung: Zum Umgang mit dem 20. Juli 1944 in der frühen Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 27 (2014) [https://www.bpb.de/apuz/186870/der-20-juli-1944-in-der-fruehen-bundesrepublik?p=all].

Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.): „Spiegelbild einer Verschwörung“. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt. 2 Bände, Seewald/Stuttgart-Degerloch 1984.