Januar 2021

Opfer im Nationalsozialismus

Deutscher Soldat liest einen Feldpostbrief an der Ostfront (1942)

Im Nationalsozialismus und vor allem zur Zeit des Zweiten Weltkriegs war das Briefschreiben eine alltägliche Medienpraktik. Soldaten gaben ihren Verwandten und Bekannten damit Lebenszeichen vom Kriegseinsatz und Familien hielten ihre sozialen Beziehungen über Feldpostbriefe aufrecht. Feldpostbriefe waren jedoch keine vom Zeitgeschehen isolierten Kommunikationsformen, vielmehr vollzog sich das Schreiben unter den NS-Diskursbedingungen möglicher Kontrolle, Zensur und Sanktion mitsamt damit verbundenen Praktiken der Selbstzensur (vgl. Diekmannshenke 2018; Dodd 2018). Entsprechend unerwünscht und unüblich war es, über Kriegshandlungen oder gar Opfer zu schreiben. Sprachlich drückt sich das in bemerkenswerten Rahmungen von Opferschaft aus, wie der erste Beleg zeigt.

Der Ungewissheit, der Vagheit, der Nichtbestimmtheit, die die Wissensübermittlung des Feldpostbriefs kennzeichnen, stehen gegenüber: größtmögliche Konkretheit, Präzision und Bewertung aus der Perspektive desjenigen, für den Orte nationalsozialistischer Verbrechen – in diesem Fall das Konzentrationslager Auschwitz – eine lebensbedrohliche ständige Gefahr bedeuteten.

Quellentext

[…] Was sind das Zeiten jetzt. Gestern sind wir durch brennende Dörfer und Städte gefahren, ein grauenvolles Bild. Ich glaube, das was die Heimat augenblicklich zu ertragen hat, ist doch ein Kleines gegenüber dem Leid, wo der Krieg drüber weggerast ist. Vor den russ. Gefangenen bekommt man einen Ekel, d.h. viele Gefangene werden nicht gemacht. Hier oben im früheren Litauen ist ziemlich viel verjudet und da gibt es ja kein Pardon. In der Ferne hört man immer den Geschützdonner und das Ex-plodieren der Fliegerbomben. Der Vormarsch geht weiter, nur vor den unendlichen russ. Weiten kann man etwas Unruhe haben. Aber es ist alles derart organisiert, daß man nur staunen kann. Es gibt keinen Halt vor der deutschen Feuerwalze. (Feldpostbrief von Albert N. an seine Schwester Johanna Sch. vom 21.6.1941)

Als furchtbarstes KZ hörte ich in diesen Tagen Auschwitz (oder so ähnlich) bei Königshütte in Oberschlesien nennen. Bergwerksarbeit, Tod nach wenigen Tagen. (Klemperer Tagebuch II, 16.3.42)

Beide wurden von dem Frauenlager in Mecklenburg nach Auschwitz transportiert, das ein schnell arbeitendes Schlachthaus zu sein scheint. (Klemperer Tagebuch II, 17.10.42)

Überall Unsicherheit, Gefahr – ein aufgefundenes Blatt genügt für Auschwitz. – Ich weiß nicht, wie sich diese Sache weiterentwickeln mag. (Klemperer Tagebuch II, 4.11.42)

Waldmann .. erzählte .. von einer Rede Thomas Manns; danach haben die Deutschen in Auschwitz anderthalb Millionen und einige bis auf die Einer bezifferten hundert Juden vergast, ihre Knochen gemahlen und als Dünger verwertet. Die genaue Zahl verdanke man der deutschen Gründlichkeit, es sei über jeden erledigten Juden Buch geführt worden, und die überraschend eindringenden Russen fanden die Bücher. (Klemperer Tagebuch II, 29.1.45)

Kommentar

In diesem Abschnitt eines Briefes von Albert N. an seine Schwester Johanna Sch. vom 21.6.1941 setzt N. das von ihm erlebte Kriegsgeschehen an der russischen Front (vgl. Reddemann 1996: 222) mit der Situation in der Heimat in Relation. Zunächst wird durch aversive Bewertungen (grauenvolles Bild, Leid) „Krieg als unausweichlich, wuchtig und zerstörerisch dargestellt“ (Dang-Anh/Scholl 2020: 50). Als Opfer werden russische Gefangene ebenso genannt wie – indirekt und „entmenschlichend zu einem resultativen Partizip transponiert“ (ebd.) – Juden. Deren Tötungen sind durch verschleiernde Euphemismen angedeutet: viele Gefangene werden nicht gemacht und da gibt es ja kein Pardon. Das kausalitätsherstellende d.h. verbindet hierbei geradezu legitimierend eine generalisierte Emotionszuschreibung (bekommt man einen Ekel) mit der Umschreibung von Tötungen (vgl. Dang-Anh 2020). Einen abstrakteren Begründungszusammenhang indiziert die Partikel ja hinsichtlich der Tötung von Juden, indem sie beiläufig auf die Selbstverständlichkeit bzw. Unausweichlichkeit der Handlungen verweist.

In diesem Feldpostbrief wird also über Opfer gesprochen. Ihre Opferschaft ist jedoch jeweils gerahmt durch a) legitimierende Äußerungen und b) Auslassung von Täterschaftszuschreibungen (sowohl lexikalisch als auch grammatisch, vgl. hierzu näher Dang-Anh 2020; Dang-Anh/Scholl 2020).

Dies ist der erste Tagebucheintrag Klemperers zu Auschwitz. Das Wort ist noch von Ungewissheit bestimmt: hörte ich – meint: ich weiß es nicht genau, oder so ähnlich – meint: es könnte auch anders heißen. Gewiss ist aber: Auschwitz ist ein Ort härtester Arbeit und ein Ort des Todes. Diese Zuschreibungen sind es, die uns heute etwas über Wissen und Wissensdistribution zur Zeit des NS-Regimes sagen: Über das Todeslager Auschwitz und seine Eigenschaften war Wissen vorhanden, was dort geschah, konnte gewusst werden.

So schreibt Klemperer bereits am 17. Oktober 1942 (Auschwitz-Birkenau existierte seit Anfang 1942):

Aus diesem Beleg ist ableitbar: Bereits Ende 1942, also kurze Zeit nach Einrichtung des Lagers, setzte die Begriffsbildung ein, seine Semantisierung. Im Zuge dieses Prozesses verlor der Name Auschwitz, seine linguistischen Eigenschaften (z.B. ohne Bedeutung und nicht flektierbar zu sein). Er wurde zu einem Begriff mit einer eigenen Semantik, anders ausgedrückt: Ein Nomen Proprium wird zu einem Appellativum (vgl. Kämper 2009). So ist der Satz Klemperers, ein aufgefundenes Blatt genügt für Auschwitz, nur möglich, wenn Auschwitz nicht (nur) Toponym ist – als solches wäre der Satz unsinnig –, sondern Bedeutungspotenzial hat und verwendet wird etwa im Sinn von ‚Konzentrationslager, in das man kommt, wenn man im NS-Verständnis ein Verbrechen begangen hat‘.

In diesem Eintrag bezieht sich Klemperer ausdrücklich auf eine der 55 Radioansprachen, die Thomas Mann seit 1940 an die Deutschen über BBC adressierte („Deutsche Hörer!“). Zwei Tage nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die russische Armee ist das Ausmaß des Verbrechens bekannt, Auschwitz wird nicht mehr gleichgesetzt mit einem Ort der Ahnung schlimmster Verbrechen, sondern es ist dieser Ort: Das Ausmaß der Verbrechen wird beziffert, Taten werden benannt.

Literaturverzeichnis

Dang-Anh, Mark (2020): Excluding Agency: Infrastructural and Interactional Practices of Exclusion in the National Socialist Dispositif of Field Post. In: M/C Journal 23 (6). DOI: 10.5204/mcj.2725.

Dang-Anh, Mark; Scholl, Stefan (2020): Zur kommunikativen Hervorbringung von Moral zur Zeit des Nationalsozialismus. In: Heidrun Kämper und Ingo H. Warnke (Hg.): Diskurs ethisch. Bremen: Hempen (Sprache – Politik – Gesellschaft 26), S. 33–56.

Diekmannshenke, Hajo (2018): Zwischen inszenierter Normalität und Propaganda. Feldpostbriefe aus den Jahren 1939 bis 1945. In: Kämper, Heidrun/Schuster, Britt-Marie (Hg.): Sprachliche So-zialgeschichte des Nationalsozialismus. Bremen: Hempen (= Sprache – Politik – Gesellschaft 24), S. 163–189.

Dodd, W. J. (2018): National Socialism and German Discourse. Cham: Springer International Publishing.

Kämper, Heidrun (2009): Über Auschwitz reden – Theodor W. Adornos sprachpädagogisches Konzept. In: Aptum 2/2009. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. Bremen: Hempen, 2009. S. 193-210

Reddemann, Karl (Hg.) (1996): Zwischen Front und Heimat. Der Briefwechsel des münsterischen Ehepaares Agnes und Albert Neuhaus 1940 - 1944. Münster (Westf). Münster: Regensberg.