(abgeschlossenes Projekt)

DFG-Projekt Tendenzen der Lexikalisierung kommunikativer Konzepte

Mitarbeiter: Gisela Harras (Leitung), Daniel Glatz, Kristel Proost, Edeltraud Winkler

Projektbeschreibung und Projektziele

In diesem Projekt wurden die folgenden Aspekte der Lexikalisierung kommunikativer Konzepte erforscht:

  1. der Aspekt der Verteilung lexikalischer Lücken und die Rolle von Kollokationen und Idiomen bei der Lexikalisierung kommunikativer Konzepte. Untersuchungsleitend ist die Frage nach der Organisation kommunikativer Konzepte in lexikalischen Ausdrücken. Da für Sprechaktverben keinerlei natürliche Taxonomie zur Verfügung steht, wird die konzeptuelle Basis aus einer indirekten induktiven Analyse gewonnen, mit der gezeigt wird, daß Sprechaktprädikate in gewissen kategorialen Aspekten übereinstimmen und in ihnen zugleich minimal unterschieden werden können. Eine systematische Ausdifferenzierung der kategorialen Aspekte bezüglich ihrer Ausprägungsmöglichkeiten über alle individuellen Vorkommen der Verben hinweg liefert das Konzeptinventar, dessen Kombinationen hinsichtlich ihrer Lexikalisierung durch einfache verbale Ausdrücke untersucht werden. Von besonderem Interesse sind dabei die Fälle fehlender Lexikalisierungen, lexikalischer Lücken. Es wird eine systematische Erklärung dieser Fälle angestrebt, wobei die Erklärungen sowohl an Theorien der lexikalischen Kategorisierung als auch an pragmatischen Theorien orientiert sein sollen.
  2. der Aspekt der Lexikalisierung von erreignisstrukturellen Eigenschaften durch Kommunikationsverben und das dadurch determinierte Verhältnis von Konzept- und Argumentstruktur. Die Untersuchung zur Lexikalisierung ereignisstruktureller Eigenschaften durch Kommunikationsverben hat ergeben, dass es einen gewissen Zusammenhang zwischen der Lexikalisierung von Sprechereinstellungen und ereignisstukturellen Eigenschaften gibt. In diesem Projekt wurde untersucht, welcher Art dieses Verhältnis genau ist.

Methodik und Datengrundlage

  • Für die Untersuchung der Lexikalisierungseigenschaften kommunikativer Ausdrücke wurde auf das konzeptuelle System zurückgegriffen, das dem IDS-Projekt "Handbuch deutscher Kommunikationsverben" zugrunde liegt. Dieses System stellt die Ordnung der kommunikativen Konzepte dar.
  • Der Untersuchung der Verteilung von Verben und verbalen Phraseologismen wurde ein Korpus von etwa 700 Phraseologismen zugrunde gelegt, das auf der Grundlage deutscher Idiomwörterbücher erstellt wurde.

Aktivitäten und Veranstaltungen

Details zum Projekt

Lexikalisierungen einer bestimmten Sprache zu untersuchen, heißt auch immer, einen Bezug herstellen zwischen einfachen lexikalischen Ausdrücken einerseits und Begriffen oder Konzepten andererseits. Der Ausdruck Lexikalisierung ist ein zweistelliges Prädikat: x ist eine Lexikalisierung von y, wobei x eine Variable für einen einfachen lexikalischen Ausdruck einer bestimmten Kategorie und y eine Variable für einen Begriff oder ein Konzept darstellt. Der einfache lexikalische Ausdruck Frau ist eine Lexikalisierung des Konzepts ERWACHSENER WEIBLICHER MENSCH. Mit einem solchen analytischen Satz wird nichts ausgesagt, was nicht schon in der Sprache selbst enthalten wäre, d.h. er erklärt nichts. Aussagen über Lexikalisierungen könnten insgesamt als Aufzählungen oder Listen von Relationen zwischen Konzepten und Ausdrücken einer Sprache aufgefaßt werden. Man könnte damit herausfinden, daß bestimmte Ausdrücke mehrere Konzepte lexikalisieren oder umgekehrt ein Konzept durch mehrere Ausdrücke lexikalisiert ist, wodurch Bezeichnungsrelationen wie Synonymie, Hyperonymie und Hyponymie bestimmt werden könnten. Offen bliebe dabei allerdings die Bestimmung der Relation zwischen den einzelnen Konzepten einerseits und den Relationen zwischen den Ausdrücken andererseits. Um diese näher bestimmen zu können, braucht man eine Ordnung der Konzepte selbst, d.h. eine Art von Taxonomie oder Begriffsnetz. Damit wäre Lexikalisierung als dreistelliges Prädikat bestimmt: Ein Ausdruck x ist eine Lexikalisierung eines Konzepts y in einem konzeptuellen Ordnungssystem z. Die Einbeziehung eines konzeptuellen Ordnungssystem ermöglicht zweierlei: erstens die Ermittlung des Lexikalisierungsbestands einer bestimmten Sprache und zweitens die Ermittlung von fehlenden Lexikalisierungen, d.h. lexikalischen Lücken, also den Fällen, in denen es für ein bestimmtes Konzept y in einem Ordnungssystem z keinen einfachen lexikalischen Ausdruck x einer bestimmten Kategorie gibt (vgl. dazu auch Priss, 1996).

Wie kann man nun ein konzeptuelles Ordnungssystem für Sprechaktverben gewinnen? Sprechaktverben haben keinerlei natürliche Taxonomie, denn dies würde voraussetzen, daß die soziale Realität selbst schon strukturiert ist, also schon vor den lexikalischen Ausdrücken durch unabhängige und eindeutige Formen einer systematischen Interaktion geregelt würde (vgl. dazu auch Baumgärtner, 1977; 1979). Dies ist aber bis auf einige Ausnahmen institutioneller Herkunft nicht der Fall. Folglich dürfte es vergeblich sein, für die Relationierung von Sprechaktverben mit anderen Vorgaben zu rechnen als ihrem bloßen Auftreten im Gebrauch. So bleibt zunächst nur der Versuch einer indirekten induktiven Analyse unter der Voraussetzung, daß Sprechaktprädikate wenigstens in gewissen kategorialen Aspekten übereinstimmen und in ihnen zugleich minimal unterschieden werden können. Daß eine solche Annahme richtig ist, läßt sich nun leicht zeigen, man vergleiche zunächst die folgenden Beispiele:

  1. Fritz bestreitet, daß der Euro noch in diesem Jahrtausend kommt
  2. Anna bittet Otto, ihr beim Umzug zu helfen
  3. Franz verpflichtet sich, bei Annas Umzug zu helfen
  4. Anna tadelt Otto, daß er die Bank gesprengt hat
  5. Otto warnt Anna davor, einen solchen Antrag zu stellen

Mit all diesen Sätzen wird auf Situationen Bezug genommen, in denen ein Sprecher S gegenüber einer Hörerschaft H (in (1) und (3) nur implizit, d.h. nicht syntaktisch kodiert) eine Äußerung macht mit einem bestimmten Inhalt, einem propositionalen Gehalt, der in den jeweiligen Komplementsätzen ausgedrückt ist. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Prädikaten bestreiten, bitten, sich verpflichten, tadeln und warnen lassen sich folgendermaßen begründen:

Mit bestreiten wird ausgedrückt, daß der Sprecher (der Referent des Subjekts des Matrixsatzes) den im Komplementsatz ausgedrückten propositionalen Gehalt nicht für wahr hält, d.h. mit dem Prädikat wird eine bestimmte Einstellung des Sprechers zum propositionalen Gehalt, eine propositionale Einstellung, ausgedrückt.

Das Prädikat bitten verlangt, daß der propositionale Gehalt p auf eine Handlung festgelegt ist, deren Agens der Hörer (der Referent des direkten Objekts des Matrixsatzes) ist; dies erklärt die semantische Abweichung von Sätzen wie:

  1. *Anna bittet Otto, zu regnen/daß es regnet
  2. *Anna bittet Otto, daß sie das Klavier trägt

Ferner verlangt bitten, daß die Hörerhandlung auf die Nachzeit festgelegt ist, vgl.:

  1. *Anna bittet Otto, ihr beim Umzug geholfen zu haben/daß er ihr beim Umzug geholfen hat

Und schließlich verlangt bitten, daß die Art der propositionalen Einstellung auf eine voluntative Einstellung festgelegt ist: S will p, sowie, da p eine Hörerhandlung darstellt, eine intentionale Sprechereinstellung: S will, daß H p tut, mit der Werteverteilung: p ist im Interesse von S. Dies wiederum verlangt, daß p auf ein Ereignis festgelegt ist, das nicht von selbst passiert, oder anders formuliert: aus der Sicht von S ist p nicht erwartbar.

sich verpflichten verlangt für p eine Handlung mit Sprecheragens in der Nachzeit als nicht erwartbarem Ereignis mit der propositionalen Einstellung: S will p, wobei p im Interesse von H ist.

tadeln verlangt für p eine vorzeitige Handlung mit Höreragens sowie eine evaluative propositionale Einstellung: S bewertet p negativ (im Unterschied etwa zu loben).

warnen verlangt einen Nachzeitbezug von p, wobei p entweder eine Handlung mit Sprecheragens oder ein Ereignis darstellt, das in die Nachzeit hineinreicht, mit der Werteverteilung: nicht im Interesse von H und der Sprecherannahme: im weiteren Verlauf der Dinge erwartbar.

Schon diese minimalen Analysen bestätigen die Annahme, daß Sprechaktprädikate in gewissen kategorialen Aspekten übereinstimmen und mit ihnen zugleich minimal unterschieden werden können. Die Übereinstimmung besteht darin, daß mit Sprechaktprädikaten auf einen Situationstyp Bezug genommen wird, der durch vier allgemeine situationsspezifische Rollen charakterisiert wird:

  • Die Rolle des Sprechers
  • Die Rolle des Hörers
  • Die Rolle des propositionalen Gehalts der Äußerung
  • Die Rolle der Sprechereinstellung (als Subsumption der propositionalen und intentionalen Einstellung sowie der Vorannahmen von S)

Dieser allgemeine Situationstyp, auf den mit den Prädikaten Bezug genommen wird oder auf den sie rekurrieren, wird allgemeiner Rekurssituationstyp genannt, mit dem die semantische Invarianz der Prädikate angezeigt ist. Der Terminus Rekurssituationstyp ist von Barwise & Perry übernommen (vgl. dazu auch Storrer, 1991), die diesen Typ von Situation von dem Typ der Diskurssituation unterscheiden, d.h. desjenigen Typs von Situation, in dem auf eine bestimmte Rekurssituation Bezug genommen wird. Für den Lexikonausschnit der Sprechaktprädikate enthalten beide Situationen das gleiche Rolleninventar, vgl. Figur 1:

Mit dieser Konzeption kann dann auch der performative Gebrauch von Sprechaktprädikaten leicht definiert werden als Zusammenfall von Diskurs- und Rekurssituation, d.h. auch als Identität der entsprechenden situationsspezifischen Rollen.

Für die Differenzierung der einzelnen Prädikate liegt es nun nahe, die kategorialen Aspekte - propositionaler Gehalt, propositionale Einstellung von S, intentionale Einstellung von S, Vorannahmen aus der Sicht von S - in ihren Ausprägungsmöglichkeiten als Verallgemeinerung über alle individuellen Vorkommen der Ausdrücke hinweg zu systematisieren. Für das methodische Vorgehen und den Status eines konzeptuellen Ordnungssystems bedeutet dies: Die kategorialen Aspekte sind aus der Analyse einer bestimmten Sprache gewonnen, die Möglichkeiten ihrer Ausprägungen werden systematisch und ohne Rücksicht auf einzelsprachliche Lexikalisierungen ausgerechnet. Mehr Sprachunabhängigkeit ist von einem konzeptuellen Ordnungssystem für Sprechaktprädikate wohl kaum zu erwarten.

Das Konzeptinventar
Fälle lexikalischer Lücken

Diejenigen kategorialen Aspekte, deren Ausprägungsmöglichkeiten das konzeptuelle Ordnungssystem konstitutieren, sind die folgenden:

  1. propositionaler Gehalt: p
  2. propositionale Einstellung von S: E(S,p)
  3. intentionale Einstellung von S: I(S)
  4. Vorannahmen von S: V(S)

(1) Für die Ausprägung des Aspekts des propositionalen Gehalts gibt es die folgenden systematischen Möglichkeiten:

  • die Art des Gehalts als: Fragegehalt oder Mitteilungsgehalt;
  • die Art des Geschehenstyps des Mitteilungsgehalts als: Zustand, Ereignis, Handlung;
  • die Art des Zeitbezugs als: vergangen, gegenwärtig und zukünftig
  • die Art des Rollenbezugs für den Fall, daß der Geschehenstyp eine Handlung darstellt, als Sprecher, Hörer, Sprecher & Hörer

Insgesamt ergibt sich die folgende Verteilung:

(2) Für die Ausprägung des Aspekts der propositionalen Einstellung des Sprechers gibt es die Möglichkeiten: epistemische Einstellung, notiert durch die Prädikate für wahr halten (f. wahr halten) und kennen, voluntative Einstellung, notiert durch wollen, ordinative (einstufende) Einstellung, notiert durch finden, evaluative Einstellung, notiert durch gut/schlecht finden und emotive Einstellung, notiert durch empfinden Freude, Ärger, Leid wegen p. Insgesamt ergibt sich die folgenden Verteilung (mit einigen Lexikalisierungsbeispielen):

Die Position des Negationszeichens ¬ (d.h. die Unterscheidung des Negationsskopus) ist in dem Kriterium der gegebenen Thematisierung von p im Vorkontext (explizit oder implizit) begründet, z.B. keine Thematisierung für lügen, warnen vs. Thematisierung von p für bestreiten, verbieten.

(3) Die intentionale Sprechereinstellung (Sprecherabsicht) ist durch das Prädikat wollen notiert; für den Einstellungsgehalt gibt es die Ausprägungen: Handlung von H, epistemische Einstellung von H, Deklarativa Sprechereinstellung (für alle institutionellen Prädikate), ordinative sowie evaluative Einstellung von H. Insgesamt ergibt sich die folgende Werteverteilung, vgl. (mit Q für einen institutionalisierten Sachverhalt und E(S) für eine Sprechereinstellung):

(4)

Für den Aspekt Vorannahmen von S gibt es die Ausprägungsmöglichkeiten der Erwartbarkeit von p, der Interessenslage von S und H (aus der Sicht von S) sowie der epistemischen Einstellung von H (aus der Sicht von S). Insgesamt ergibt sich die folgende Werteverteilung, vgl.:

Zu den Vorannahmen des Sprechers gehören auch solche, die spezifische direkte Situationsumstände betreffen, wie die Position der Äußerung, ob initial oder reaktiv, die Rollenspezifik von S, ob informell oder institutionell sowie andere institutionsspezifische Bedingtheiten. Diese Aspekte sind am wenigsten systematisch zu entwickeln, das ihre Ausprägungen wesentlich durch die spezifischen Organisationen einer Sprach- und Kulturgemeinschaft bedingt sind. Unter diesem Vorbehalt ergibt sich die folgende Werteverteilung:

Das hier vorgestellte Inventar in seiner Eigenschaft als konzeptuelles Ordnungssystem zur Ermittlung des Lexikalisierungsbestands von deutschen Sprechaktverben ist im Rahmen des IDS-Projekts "Erklärende Synonymik kommunikativer Ausdrücke des Deutschen" (ESKA) entwickelt und an ca. 600 deutschen Sprechaktverben erprobt worden, wobei die entsprechenden Konzept-Verb-Relationen nur eine - wenn auch wesentliche - Bedeutungsrepräsentation der Verben darstellt. Bezogen auf eine Zwei-Ebenen-Semantik würde sie der konzeptuellen Bedeutungskomponente bzw. deren Darstellung zugerechnet. Daß sie jedoch - im Unterschied etwa zu natural kind-Wörtern oder Artefaktbezeichnungen - für Sprechaktverben einen wesentlichen Anteil an der (Darstellung der) Bedeutung der Verben hat, ist durch das Fehlen einer natürlichen Taxonomie hinreichend begründet.

Die semantische Komponente der Verben als Schnittstelle zwischen konzeptueller und grammatischer Ebene wird in dem genannten Projekt durch Lexikoneinträge repräsentiert, die den einzelnen Konzeptrelata zugeordnet sind. Sie enthalten die folgenden Informationen, die auch solche pragmatischer Natur mit einschließen:

  1. Informationen zur Argumentstruktur der Verben;
  2. Informationen zur Konzeptstruktur, d.h. zur Komposition der konzeptuellen Komponenten;
  3. Informationen zur Verwendungsspezifik, d.h. zu typischen Argumentstellenbelegungen, zu typischen Kontexten (Kollokationen) sowie zur Möglichkeit des performativen Gebrauchs;
  4. Informationen zu semantischen Relationen der Ausdrücke in einem Paradigma, speziell zu synonymischen, die durch Substitutionstests in Kontexten demonstriert werden;
  5. Korpusbelege

Es versteht sich von selbst, daß für eine detaillierte Untersuchung des Lexikalisierungsbestands in einem Wortschatzausschnitt neben der Konzept-Verb-Relation auch die semantische Organisation der entsprechenden Paradigmen berücksichtigt werden muß.

Die Basis für ein konzeptuelles Ordnungssystem für Sprechaktverben
Fälle lexikalischer Lücken

Hauptziel des Projekts ist die Erfassung und Untersuchung des Lexikalisierungsbestands deutscher Sprechaktverben, wobei die Möglichkeit der Erklärung fehlender Lexikalisierungen, lexikalischer Lücken vor dem Hintergrund der jeweiligen Konzept-Verb-Relationen sowie paradigmainterner semantischer Relationen von besonderem Interesse sein soll. Die Berechtigung und Angemessenheit dieses Interesses wird durch vier Beispiele näher begründet.

Das erste Beispiel: die Lexikalisierungen der Werteverteilung des Aspekts: Propositionaler Gehalt

Für die Ausprägungsmöglichkeiten des Geschehenstyps propositionaler Gehalte ergibt sich, daß die Unterscheidung "Zustand", "Ereignis" bis auf einige wenige institutionsgebunden Prädikate wie taufen nicht distinktiv ist. Es gibt keine Verben, mit denen so etwas wie "Zustandssagen" im Unterschied zum "Ereignissagen" lexikalisert wäre. Dagegen gibt es ein "Handlungssagen", das durch alle direktiven und kommissiven Prädikate wie bitten, raten, sich verpflichten usw. bezeichnet wird.

Der Grund für eine solche Lexikalisierungslücke könnte in Relevanzprinzipien einer Sprachgemeinschaft zu finden sein: Einer Gruppe ist es für ihr Überleben als Gruppe wichtig, sich über zukünftige und vergangene Handlungen ihrer Mitglieder zu verständigen, d.h. nach Lewis ihr Verhalten zu koordinieren und einschlägige Konventionen auszubilden. Man sollte meinen, daß dies für alle Gruppen gilt, so daß die Suche nach einer Sprache mit entsprechenden Lexikalisierungen vergeblich sein dürfte.

Das zweite Beispiel: Lexikalisierungen von negierten Einstellungen und Einstellungsgehalten

Für die intentionale handlungsbezogene Sprechereinstellung gibt es prinzipiell die beiden Möglichkeiten:

  • S will: H tut p
  • S will: H tut nicht p

Im Deutschen gibt es keine Lexikalisierung für Nicht-Tun oder Unterlassen von Hörerhandlungen bei initialen Aufforderungen, d.h. es gibt keinen lexikalischen Ausdruck für "auffordern, etwas nicht zu tun". Für reaktive Prädikate spielt dagegen die Ausprägung des propositionalen Gehalts als p und ¬p eine Rolle: bei den direktiven Verben haben wir einerseits erlauben (für p), andererseits verbieten (für ¬p). Das Gleiche gilt für repräsentative Prädikate: für initiale behaupten (für p oder ¬p) und für reaktive: zustimmen, bejahen (für p) und bestreiten, verneinen (für ¬p). Am wenigsten ausgebildet ist diese Distribution bei den kommissiven Prädikaten: initial haben wir versprechen (für p und ¬p), reaktive Prädikate sind beschränkt auf spezielle Gebrauchsweisen von zusichern (für p) und entsagen, verzichten (für ¬p). Auf der zweiten Reaktionsstufe ist die Unterscheidung wiederum nicht distinktiv, vgl. beharren auf, bestehen auf (für p und ¬p); Verben der direktiven und kommissiven Klasse fehlen hier. Insgesamt ergibt sich damit die folgende Distribution:

  Direktiv Kommissiv Repräsentativ  
p v ¬p auffordern versprechen behaupten INITIAL
p erlauben zusichern zustimmen REAKTIV
¬p verbieten entsagen bestreiten REAKTIV
p v ¬p ? ? beharren auf RE-REAKTIV

Eine Erklärung für diese Lexikalisierungslücke liegt auf der Hand: die komplexen (reaktiven) Prädikate beziehen sich auf Typen von Situationen, in denen p bereits durch Vorkommunikation eingeführt ist, d.h. p ist im Aufmerksamkeitsbereich oder in der kognitiven Umgebung von S und H manifest, so daß eine Festlegung bezüglich "p:ja" oder "p:nein" einen hohen Relevanzwert besitzt. Diese Begründung durch das Prinzip der Relevanz ist pragmatischer Natur. Ob zur Erklärung solcher Lexikalisierungslücken auch allgemeine kognitive Prinzipien zur Strukturierung formaler Repräsentationen herangezogen werden können oder müssen, wird erst eine Analyse des gesamten Lexikalisierungsbestands zeigen können.

Das dritte Beispiel: Lexikalisierungen des Fragens

Mit diesem Beispiel soll zugleich auch die Notwendigkeit der Berücksichtung der semantischen Struktur eines Paradigmas demonstriert werden, hier des Paradigmas der Fragen. Insgesamt ergeben sich die folgenden Lexikalisierungsverteilungen für das Konzept FRAGEN, das durch die Ausprägung des propositionalen Gehalts als Fragegehalt, die Ausprägung der propositionalen Einstellung als: S kennt p nicht, die Ausprägung der intentionalen Einstellung als: H tut r und der Vorannahmen: H kennt p charakterisiert ist, vgl. :

Fehlende Lexikalisierungen gibt es zumindest für die folgenden Fragen:

  1. Arten von Fragen: Entscheidungsfrage, Ergänzungsfrage, rhetorische Frage, Erinnerungsfrage, Fangfrage;
  2. bereichsspezifisches Fragen: Regiefrage, Sachfrage, Umweltfrage
  3. sprecherrollenbezogenes Fragen: Richterfrage, Lehrerfrage, Studentenfrage
  4. adressatenbezogenes Fragen: Leserfrage, Publikumsfrage

Zur Erklärung dieser lexikalischen Lücken wird man zunächst sprachspezifische Phänomene bemühen: Das Deutsche verfügt über die Möglicheit der nominalen Kompositabildung, sowie über die Möglichkeit komplexer verbaler Bildung wie Funktionsverbgefüge wie eine x-Frage stellen. Eine zusätzliche Lexikalisierung durch einfache verbale Ausdrücke würde dem sprachlichen Ökonomieprinzip widersprechen. Dies korrespondiert mit dem Basic-Level-Prinzip, nach dem es relativ zu einer bestimmten hierarchischen Ordnung die meisten Lexikalisierungen auf einer mittleren Ebene der Spezifiziertheit gibt.

Das vierte Beispiel: Ausprägungen der Vorannahmen über Sprecher- und Hörerinteressen:

Bestimmte Ausprägungen der Vorannahmen über Sprecher- und Hörerinteressen sind für Direktiva und Kommissiva im Deutschen überhaupt nicht lexikalisiert.

Figur 9

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Für Direktiva gibt es keine Lexikalisierung der Ausprägung der Sprechereinstellung: S will p und der Vorannahme: p ist nicht im Interesse von H. Die Prädikate zumuten, zwingen, die einer solchen Kombination noch am ehesten entsprächen, sind nicht eindeutig auf sprachliche Handlungen zu beziehen und finden sich am ehsten in Kommentaräußerungen wie leider muß ich dir zumuten, daß. Für Kommissiva gilt das Gleiche: Für den Fall, daß S etwas verspricht, das nicht im Interesse von H ist, gibt es das Prädikat drohen, das ebenfalls als Kommentarausdruck in Äußerungen wie ich drohe dir nur ungern verwendet wird.

Für nicht-sprachliches altruistisches Handeln gibt es Prädikate wie sich aufopfern, sich schinden; es gibt aber kein kommissives Prädikat, in dem sowohl das Interesse der Sprecherhandlung für den Hörer als auch das Nichtinteressse der Sprecherhandlung für den Sprecher selbst lexikalisiert wäre.

Für Direktiva gibt es kein initiales Prädikat mit der Lexikalisierung der Ausprägung: im Interesse von H; dies ergäbe so etwas wie: "gutfordern". Eine solche Lexikalisierung ist dagegen mit reaktiven Prädikaten wie erlauben, gestatten gegeben. Und schließlich gibt es kein Kommissiv für die Ausprägung: im Interesse von S, was einer Art von Selbstverheißung gleich käme.

Für solche Lexikalisierungslücken drängt sich die Hypothese auf, daß sie kommunikationsethischen Gründen folgen (vgl. dazu auch Edmonson, 1981): Mit entsprechenden lexikalischen Ausdrücken würde eine Verletzung der angemessenen Distanz zwischen Sprecher und Hörer zur Sprache gebracht werden, wobei die angemessene Distanz einerseits die Vermeidung des Eingreifens in die Sphäre des jeweils anderen und andererseits die Vermeidung des Aufdringens der eigenen Sphäre ausbalanciert. Man könnte auch sagen, daß die Lexikalisierung nach der "tact maxim" von Leech erfolgt, gemäß der Maxime: "Unterstützte die Kosten und Nutzen deines Hörers" und ihrem Korrelar: "Unterdrücke deine eigenen Kosten und Nutzen".

Die hier vorgeführten Beispiele für Lexikalisierungslücken haben folgende Möglichkeiten ihrer Erklärung demonstriert:

  1. Die Möglichkeit der Erklärung durch das Basic-Level-Prinzip der lexikalischen Kategorisierung;
  2. Die Möglichkeit der Erklärung durch kognitive Prinzipien zur Strukturierung formaler Repräsentationen;
  3. Die Möglichkeit der pragmatischen Erklärung durch Relevanzprinzipien
  4. Die Möglichkeit der Erklärung durch kommunikative bzw. kommunikationsethische Prinzipien.

Neben der Untersuchung der Erklärungskraft der jeweils einzelnen Prinzipien soll auch die Untersuchung ihrer Beziehungen untereinander angestrebt werden, d.h. die Beantwortung von Fragen wie: Gibt es Folgerungsbeziehungen zwischen den Prinzipien? - z.B. wenn (1) Erklärungskraft besitzt, dann auch (2); gibt es Präferenzregeln? - z.B. wenn (3) und (4) Erklärungskraft besitzen, dann ist (4) vorrangig oder: gibt es Beschränkungsregeln für die Erklärungskraft von Prinzipien? - z.B. wenn (2) Erklärungskraft besitzt, dann auf keinen Fall (4).

Die Basis für ein konzeptuelles Ordnungssystem für Sprechaktverben
Das konzeptuelle Ordnungssystem

Projektaktivitäten (innerhalb der Projektlaufzeit)

Proost, Kristel & Daniel Glatz (12.08.2000). "Semantic and Syntactic Properties of Verbs of Communication." – The Ninth EURALEX International Congress, EURALEX 2000. Stuttgart. 08. - 12. August 2000. Universität Stuttgart.

Glatz, Daniel (29.08.2001). "On Some Event Structural Peculiarities of Verbs of Communication." 34th International SLE 2001 Conference "Language Study in Europe at the Turn of the Millennium: Towards the Integration of Cognitive, Historical and Cultural Approaches to Language." 28. August – 01. September 2001. Katholieke Universiteit Leuven (Belgien).

Harras, Gisela & Kristel Proost (01.09.2001). "The Lexicalization of Speech Act Evaluations in English, Dutch and German." 34th International SLE 2001 Conference." Language Study in Europe at the Turn of the Millennium: Towards the Integration of Cognitive, Historical and Cultural Approaches to Language." 28. August – 01. September 2001. Katholieke Universiteit Leuven (Belgien).

- Gisela Harras/Daniel Glatz/Kristel Proost: Tendenzen der Lexikalisierung kommunikativer Konzepte. IDS-Kolloquium am 26.06.2001 – Institut für Deutsche Sprache, Mannheim

Gisela Harras: Einführung

Daniel Glatz: Zur Lexikalisierung ereignisstruktureller Eigenschaften bei Sprechaktverben.

Kristel Proost: (Un)Möglichkeiten der Lexikalisierung kommunikativer Konzepte.

- Gisela Harras & Kristel Proost: Strategien zur Lemmatisierung von Idiomen. IDS-Kolloquium am 02.07.2002 - Institut für Deutsche Sprache, Mannheim.

  • 04. - 05.05.2000 mit Markus Egg (z. Zt. Universität Jena)
  • 06. - 08.12. 2000 mit Christiane Fellbaum (Princeton University)
  • 02. – 03.10. 2001 mit Dmitrij Dobrovol’skij (Moscow State University)
  • 27. - 28.05.2002 mit Jef Veschueren (Universität Antwerpen)
  • 08. - 09.10.2002 mit Stefan Engelberg (Bergische Universität Wuppertal)

Neben dem 2001 erschienenen Band "Kommunikationsverben" wird im Jahr 2003 ein weiterer Band "Domänen der Lexikalisierung kommunikativer Konzepte" vorliegen, der die folgenden Beiträge enthalten wird:

- Daniel Glatz: Verben und Funktionsverbgefüge – einfach nur semantische Doubletten oder mehr?

- Gisela Harras: Bewertungen – Suppositionen oder Präsuppositionen?

- Kristel Proost: Komplexe Lexikalisierungen als Füller lexikalischer Lücken?

Zu den Themenbereichen des Projekts gibt es die folgenden Publikationen:

Gisela Harras/Kristel Proost (2002): Strategien der Lemmatisierung von Idiomen. In: Deutsche Sprache, Heft 2/2002. S. 167-183.

Gisela Harras/Kristel Proost (im Druck): The Lexicalisation of Speech Act Evaluations in German, English and Dutch. Erscheint in: Sociolinguistic, Historical and Comparative Perspectives on Variation: Proceedings of the SLE Conference 2001, Leuven (Belgium). Eds. Nicole Delbecque, Johan van der Auwera & Dirk Geeraerts. (= Trends in Linguistics). Berlin: Mouton de Gruyter.

Gisela Harras/Kristel Proost (im Druck): The Lemmatisation of Idioms. Erscheint in: Proceedings of the Eleventh International Symposium on Lexicography, University of Copenhagen, 2-4 May 2002. (= Lexicographica Series Maior). Tübingen: Niemeyer.

Proost, Kristel (im Druck): Einfache und komplexe Lexikalisierungen in Paradigmen kommunikativer Ausdrücke. Erscheint in: Den Nagel auf den Kopf treffen: Wortverbindungen mehr oder weniger fest. Jahrbuch 2003 – Institut für Deutsche Sprache.

Proost, Kristel (in Vorbereitung): Conceptual Structure in Lexical Items: The Lexicalisation of Communication Concepts in English, German and Dutch. Diss. Institut für Deutsche Sprache/Universität Mannheim.

Siehe die unter den einzelnen MitarbeiterInnen sowie

Harras, Gisela (Hrsg.): Kommunikationsverben: Konzeptuelle Ordnung und semantische Repräsentation. Tübingen: Narr, 2001. (Studien zur deutschen Sprache 24)