Grammatik der deutschen Sprache (GDS)


Gegenstand und Adressaten

Mit Sprache können wir uns über alles verständigen, was unsere Welt ausmacht. Wir können unser Handeln koordinieren, Wissen erweitern, Einstellungen mitteilen, Gefühle ausdrücken, fiktive Welten entwerfen. Ein so leistungsfähiges Instrument kann in Form und Aufbau nicht einfach sein, es kann auch nicht durch wenige Handlungsfunktionen (etwa in der Beschränkung auf den Typus der Aussage) erschöpfend charakterisiert werden. Wenn dies zutrifft, muß aber auch eine zureichende systematische Beschreibung komplex ausfallen, und sie wird einige Ansprüche an die Leser stellen. Wünschenswert sind: eine reflektierende Einstellung zu dem, was im Alltag so selbstverständlich scheint, und ein Interesse, sprachlichen Phänomenen in größerer Breite und Tiefe als in einer Schulgrammatik nachzugehen. Unsere Zielgruppe sind Sprachinteressierte mit Vorkenntnissen: Kolleginnen und Kollegen aus der Linguistik und aus Nachbardisziplinen (Informatik/Künstliche-Intelligenz-Forschung, Psychologie, Sozialwissenschaften usw.), Lehrende und Studierende, denen sprachwissenschaftliche Probleme nicht fremd sind und die einfach viel über das Deutsche wissen wollen. Gegenstand ist die Grammatik des gegenwärtigen Deutsch, wie es etwa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts - kurz: seit der Zeit Fontanes - gesprochen wird. Die vorliegende Grammatik ist keine Varietätengrammatik, sondern beschränkt sich auf das Konstrukt der Standardsprache in ihrer schriftlichen und mündlichen Ausprägung. Standardsprachlicher Sprachverkehr folgt überregional gültigen Regeln und zeichnet sich durch eine "neutrale" Stilhöhe gegenüber der Umgangssprache, dem Substandard, aus; er entspricht nicht immer der kodifizierten Norm, sondern weist bei bestimmten Phänomenen ein Spektrum von Möglichkeiten auf. Diese Variationsbreite innerhalb der Standardsprache machen wir durch den Zugriff auf Korpora zugänglich. Nur gelegentlich werden Daten aus Substandard-Varietäten herangezogen oder regionale Spezifika erwähnt. Abgesehen von den Schwierigkeiten der theoretischen Konzipierung einer Varietätengrammatik gab nach unserer Einschätzung der Forschungsstand (im Bereich der noch immer unterentwickelten Dialektsyntax wie insbesondere sozialer Variation) nicht mehr her. Auch auf sprachgeschichtliche Hintergründe haben wir nur gelegentlich hingewiesen. Eine ausgearbeitete Grammatik der gesprochenen Sprache erscheint derzeit nicht möglich, wir sind aber auf eine Vielzahl von Phänomenen eingegangen, deren Erklärung an Merkmale von Mündlichkeit und Sprechsituation gebunden ist. Wir haben diese Grammatik geschrieben, weil wir neue Sichtweisen und Zugänge erproben und einen möglichst großen Ausschnitt des Deutschen formbezogen wie funktional-semantisch und funktional-pragmatisch analysieren wollten. Eine Aufgabe dieses Ausmaßes kann man heute wohl nur noch im Team angehen. Dies bedingt ein gewisses Maß an individuellen Schreib- und Herangehensweisen, das nicht einfach ohne Verluste eingeebnet werden kann. Andererseits haben sich in der konkreten Arbeit immer wieder überraschende Gemeinsamkeiten ergeben, die im Text an vielen Punkten deutlich werden. Das hat nicht nur die Verfasser angesichts der vielen Detailprobleme bestärkt, es sollte auch andere zu kritischer Kooperation über die Grenzen sprachtheoretischer Auffassungen hinweg ermutigen. Daß bei aller Anstrengung der Autoren ein paar Eigenheiten stehengeblieben sind und sich nicht alle Beteiligten sämtliche im Endtext vertretenen Ansichten zu eigen machen konnten, ist unvermeidlich. Grammatik betrachten wir als Systematik der Formen und Mittel sprachlichen Handelns. Sprache ist deshalb so vielfältig einsetzbar und so einfach an veränderte Konstellationen und Kommunikationsanforderungen anzupassen, weil ein reiches, offenes lexikalisches Inventar (Substantive, Adjektive, Verben) sich mit einem begrenzten Repertoire an Strukturwörtern (Artikel, Präpositionen usw.) und grammatischen Mitteln wie Flexion, linearer Abfolge, Intonation/Interpunktion verbindet. Kommunikative Aufgaben und Zwecke sind letztlich für die Gestalt dieses Systems verantwortlich. In der Sprachentwicklung haben spezifische Formausprägungen systeminterne Folgen, sie führen zu Ausgleichs- und Transfererscheinungen, Instabilitäten und Funktionsüberladungen, Dubletten und Unterbestimmtheiten usw., die ihrerseits weitere Veränderungsprozesse auslösen; daneben schlagen sich soziale wie physiologische, materielle wie strukturelle Faktoren in ebendiesen Formen nieder, so daß gelegentlich die Form-Funktions-Beziehungen als nur mehr indirekte erscheinen oder reine Formprinzipien und Formbesonderheiten anzunehmen sind, je elementarer die Perspektive auf die Sprache wird. Um so wichtiger wird die Aufgabe, den Formenaufbau in seiner faktischen Komplexität und die funktionalen Strukturen in ihrer Vielschichtigkeit zu erschließen und aufeinander zu beziehen. Zur nächsten Seite