PRESSEMITTEILUNG:

Leibniz-Institut für Deutsche Sprache plädiert für gegenseitige Toleranz beim Thema „Gendern“

Anlässlich der Klage eines VW-Mitarbeiters gegen Audi ist das Thema „Gendern“ wieder ein mediales Thema geworden. Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) plädiert in einer Stellungnahme für mehr gegenseitige Toleranz.

Sprache ist kein statisches Gebilde und entwickelt sich auch nicht in einem sozial unabhängigen oder ideologiefreien Raum. Dies ist in der aktuellen linguistischen Forschung eine breit geteilte Position. Wenn das Thema Geschlechtergerechtigkeit also im öffentlichen Diskurs wichtiger geworden ist, ist es nicht verwunderlich, dass sich das auch in Veränderungen des Sprachgebrauchs zeigt. „Es gibt sehr gute Gründe, den traditionellen Sprachgebrauch des generischen Maskulinums infrage zu stellen – also Bezeichnungen wie Kollegen oder Mitarbeiter für alle Zugehörigen eines Betriebs“, erläutert Prof. Dr. Carolin Müller-Spitzer, Leiterin des Projekts „Empirische Genderlinguistik“ am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. In den letzten Jahren werden dementsprechend vermehrt geschlechtergerechte Formen verwendet. Unter geschlechtergerechter Sprache oder Gendern versteht man dabei eine Vielfalt alternativer Schreibweisen wie Doppelformen (Kolleginnen und Kollegen), Neutralisierungen (Mitarbeitende, Führungskräfte) oder Formen mit Genderzeichen (Kolleg*innen, Mitarbeiter:innen). Gerade diese neuen Genderzeichen wie Genderstern, -doppelpunkt oder -gap stehen im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Sie zeigen den kommunikativen Wunsch, geschlechtliche Vielfalt jenseits von weiblicher und männlicher Geschlechtsidentität explizit auszudrücken. Unsere gegenwärtigen Beobachtungen zeigen, dass diese Formen in den letzten Jahren häufiger geworden sind und auch von immer mehr Unternehmen verwendet werden. Der Rückzug des generischen Maskulinums in der Anrede, in Funktionsbezeichnungen, in Gesetzestexten und in vielen anderen Kontexten ist aber insgesamt ein kontinuierlicher Prozess, der durch die Emanzipationsbestrebungen der Frauenbewegung und später zusätzlich von der LGBTQIA+-Community angestoßen wurde und sich seit gut 30 Jahren auch in sprachpolitisch motivierten Veränderungen des sprachlichen Usus zeigt. Diese Art von Sprachwandel ist nichts Ungewöhnliches, denn Sprachnormen – wie soziale Normen allgemein – sind wertebezogen. Genauso wie die Sprache selbst wandeln sich dementsprechend auch die sprachlichen Normen und damit die Frage, was „gut“ und „richtig“ ist, kontinuierlich.

Die verschiedenen Formen geschlechtergerechter Sprache werden dabei kontrovers diskutiert. Dabei spielt ästhetisches Empfinden eine Rolle, aber auch Meinungen, gerade die neuen Zeichen würden die Verständlichkeit oder Lesbarkeit von Texten erschweren. „Dies zeigt die empirische Forschung so nicht“, sagt Müller-Spitzer. Es scheint vielmehr darauf anzukommen, wie sie eingesetzt werden. „Es ist meist keine empfehlenswerte Strategie, jede Personenbezeichnung in einem Text durch eine mit Genderstern o.Ä. zu ersetzen. Man muss andere, kreative Schreibstrategien anwenden.“ Insgesamt, so sieht es das IDS, gibt es nicht die eine „richtige“ Form des Umgangs. Weder solle eine bestimmte Form des Genderns verpflichtend sein, noch solle der Wunsch nach mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache als ideologisch abgetan werden. Dazu Prof. Dr. Henning Lobin, Wissenschaftlicher Direktor des IDS: „Auch in unserer Belegschaft am IDS sehen wir ein buntes Bild an Sprachverwendungen. Einige Mitarbeitende nutzen den Genderstern oder -doppelpunkt, andere lieber Doppelformen oder auch das generische Maskulinum. So zeigt sich auch bei uns ein vielfältiges Bild. Wir stehen dem entspannt gegenüber.“ Dass die Sprachwissenschaft dem Thema geschlechtergerechte Sprache insgesamt offen gegenübersteht, zeigt sich auch darin, dass die „Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft“ dieses Jahr mit großer Mehrheit eine geschlechtergerechte Satzung verabschiedet hat. Auch die immer wieder öffentlich geäußerte Haltung, „die Sprachwissenschaft“ stehe geschlechtergerechter Sprache kritisch gegenüber, spiegelt nicht den gegenwärtigen Forschungsstand (vgl. den offenen Brief hier) wider.

Die sprachliche Freiheit sollte uns ein hohes Gut sein. Die Forderung beispielsweise, der öffentlich-rechtliche Rundfunk müsse das Gendern unterlassen, läuft diesem Freiheitsgedanken gerade zuwider. Für Unternehmen oder Institutionen besteht allerdings oft die Schwierigkeit, ein einheitliches Erscheinungsbild nach außen abgeben zu wollen, auch in sprachlicher Weise. Richtlinien für die Unternehmenskommunikation betreffen aber immer nur die Kommunikation im Unternehmen, nicht die Sprache insgesamt.

Dass es in diesem Themenbereich unterschiedliche Positionen und kontroverse Diskussionen gibt, ist selbstverständlich und durchaus zu begrüßen. „Wir müssen aber im Moment mit unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten leben, bis sich in der Sprachgemeinschaft mehr einheitliche Schreib- und Sprechgewohnheiten etabliert haben“, so Lobin. „Dabei sollten wir akzeptieren, mit Sprachformen konfrontiert zu werden, die nicht die sind, die wir selber präferieren. Dies ist eine Form von Toleranz, die man in einer pluralistischen Gesellschaft erwarten können sollte“, ergänzt Müller-Spitzer. Für einzelne Sprachformen zu werben, sei natürlich legitim, aber eine gegenseitige Offenheit trotzdem notwendig.

Leibniz-Institut für Deutsche Sprache

Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim ist die gemeinsam vom Bund und allen Bundesländern getragene zentrale wissenschaftliche Einrichtung zur Dokumentation und Erforschung der deutschen Sprache in Gegenwart und neuerer Geschichte. Es gehört zu den über 90 Forschungs- und Serviceeinrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft. Näheres unter: www.ids-mannheim.de, www.facebook.com/ids.mannheim und www.leibniz-gemeinschaft.de

Ansprechpartnerin:

Prof. Dr. Carolin Müller-Spitzer
Leiterin des Programmbereichs „Lexik empirisch und digital“
Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS)
Tel.: + 49 621 1581-415
https://perso.ids-mannheim.de/seiten/mueller_carolin.html

Pressekontakt:

Dr. Annette Trabold
Leiterin Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS)
R 5, 6-13
68161 Mannheim
Tel.: +49 621-1581-119
E-Mail: trabold(at)ids-mannheim.de

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