"Vergangenheitsbewältigung":
Erinnerung und Identität im Nachkriegsdeutschland

Diskussionsforum in der Reihe "Geisteswissenschaft im Dialog"
20. Juni 2007, 18.00 bis 21.00 Uhr
im Institut für Zeitgeschichte, München

Wer wir sind, ist tief geprägt von dem, woran wir uns erinnern. Vom Orientierungsverlust, der mit fehlender Erinnerung einhergeht, weiß nicht erst die Gedächtnisforschung. Und gleichzeitig ist unser Erinnern geprägt von dem, was wir sind. Vergangenes Geschehen wird nicht einfach in objektiven Abbildern im Gedächtnis gespeichert, sondern immer neu rekonstruiert – öffentlichkeitswirksam veranschaulichte das in den 1990er Jahren die false memory debate um Gerichtsverfahren, in denen sich Zeugen offenbar nach bestem Wissen "falsch" erinnerten. Das gilt für die einzelne autobiographische, aber auch für die kollektive Dimension von Erinnerung, für die "Erinnerungskulturen" einer Gesellschaft. Über die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vergewissert sich eine Gesellschaft ihrer selbst, stellt – und dies zu verschiedenen Zeiten durchaus unterschiedlich – Identität her. Wie aber erinnert sich, ab 1945, eine Gesellschaft "am Nullpunkt" an die unfassbaren Ereignisse der NS-Zeit? Wie manifestiert sich diese Erinnerung in ihrer Zeit, und welche Spuren lassen sich bis heute erkennen? Welche Mechanismen und Wechselwirkungen, welche Strategien werden sichtbar? Und schließlich: Wie verändert sich die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit heute, angesichts des allmählichen Schwindens der Generation der Zeitzeugen? Ein Podiumsgespräch mit: Priv.-Doz. Dr. Heidrun Kämper
Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Deutsche Sprache, Mannheim;
Privatdozentin an der Universität Mannheim;
Leiterin des (bis 2002 von der DFG geförderten) Forschungsprojekts
"Zeitreflexion im ersten Nachkriegsjahrzehnt" Dr. Edith Raim
Wissenschaftliche Projektmitarbeiterin im Projekt
"Die Verfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945"
im Institut für Zeitgeschichte, München – Berlin Dr. Hans Dieter Schäfer
Literaturwissenschaftler und Schriftsteller;
von 1974 bis 2004 Dozent für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg;
Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz Moderation: Sven Felix Kellerhoff
Leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte, Die Welt Statements: Restituierung der guten Kinderstube – Identitätskonstruktion in der frühen Nachkriegszeit
Gerade nicht als Ausdruck von Identitätsverlust beschreibt Heidrun Kämper den vergangenheitsbezogenen Diskurs der Deutschen nach 1945. Dieser Diskurs, der sich in einer Reihe von Leitvokabeln verdichte – Wendezeit, verschüttet, Reinigung, Genesung, Haftung –, habe vielmehr dazu gedient, eine durchaus bekannte und, wie man meinte, bewährte Identität wieder zur Geltung zu bringen. Die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit in der Zeitgeschichte – Justiz und Politik in der Nachkriegszeit
Die Verbrechen des Nationalsozialismus und ihre Aufarbeitung sind Teil einer deutschen Identität geworden. Gleichzeitig war aber der Umgang mit ihnen in der Nachkriegszeit vielen Wandlungen unterworfen. Mit dem Blick auf die Verfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945, auf die Justiztätigkeit, aber auch auf das Verhalten der Politik zeigt Edith Raim verschiedene Phasen dieser Auseinandersetzung auf. Trauerrituale und Amnesie in den Langen Fünfziger Jahren
Beide deutschen Teilstaaten integrierten ehemalige Täter und kompensierten dieses Verhalten durch eine wohlfeile Trauerrhetorik. Hans Dieter Schäfer erörtert, wie sich auch im Westen durch die Gruppe 47 eine "Staatsliteratur" herausbildete, welche die Gesetze des Marktes höher als die Wahrheitssuche in eigenster Sache stellte. Das späte Eingeständnis von Günter Grass, er sei Mitglied der Waffen-SS gewesen, sowie die Abwehr der Kritik als "Entartung" des Journalismus ließen eine Bewusstseinsspaltung vermuten, die typisch für viele deutsche Zeitzeugen gewesen sei. Weitere Informationen zum Disskussionsforum und "Geisteswissenschaft im Dialog" unter: http://www.geisteswissenschaft-im-dialog.de/startseite.html Pressemitteilung: "Geisteswissenschaft im Dialog mit neuem Schwung" vom 1. Juni 2007