Linguistisches Forschungskolloquium:

Sprachenstatistik als imperiale Wissenschaft?

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© Norbert Cußler-Volz, IDS

Leben und Werk des preußischen Statistikers Richard Böckh (1824–1907)

Mittwoch, den 10. Juli 2024, 14:00 bis 15:30 Uhr
Vortragssaal des IDS in R 5

Vortrag von Prof. Dr. Torsten Leuschner (Universität Gent, Belgien)

Abstract

Gegenstand des Vortrags sind die Konstruktionsgeschichte und -prinzipien einer proto- oder quasi-imperialen Sprachenstatistik im preußisch-deutschen Kontext, und zwar am Beispiel einer herausragenden Figur der deutschen Statistik des späten 19. Jahrhunderts: des fachlich einflussreichen, international vernetzten, um 1870 auch publizistisch aktiven Berliner Statistikers Richard Böckh (1824-1907). Die 200. Wiederkehr seines Geburtstags soll zum Anlass genommen werden, Böckh als eine schillernde Übergangsfigur zwischen altliberalem Humanismus, gallophober Nationalromantik und wissenschaftlichem Positivismus zu profilieren, wobei auch unveröffentlichte Dokumente aus seinem Nachlass herangezogen werden. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht Böckhs höchst problematischer Versuch, die Methoden des Sprachenzensus (im Verbund mit verbesserten kartographischen Techniken) zu verwissenschaftlichen und zugleich im Dienste des sog. Nationalitätsprinzips die "Deutschen" anderer Herrschaftsbereiche für die deutsche Sprach- und Kulturnation zu vereinnahmen. Umfassend gebildet, persönlich beliebt, als hoher Staats- und Kommunalbeamter vielfach geehrt und als ao. Statistikprofessor an der Berliner Universität auch unter Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftlern wirksam, gehörte Böckh am Ende seines langen, arbeitsreichen Lebens bereits einer überholten, den Zeitgenossen fremd gewordenen Welt an, was sich im Schwanken seiner posthumen Rezeption zwischen alldeutscher Vereinnahmung und polemischer Ablehnung äußerte.

Zur Person:

Torsten Leuschner promovierte an der Freien Universität Berlin und ist – nach diversen Unterrichtstätigkeiten im Bereich Deutsch als Fremdsprache und Auslandsgermanistik –  seit 2011 Professor für germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Gent (Belgien); außerdem hat er eine Gastprofessur an der Queen Mary University of London inne. Er ist Präsident des Belgischen Germanisten- und Deutschlehrerverbandes (BGDV), Redaktionsmitglied der FachzeitschriftGermanistische Mitteilungen (erscheint als Online-Jahrbuch bei Winter, Heidelberg), Mitglied des Arbeitskreises Sprache, Geschichte, Politik und Kommunikation sowie Mitherausgeber der Buchreihe Linguistik in Empirie und Theorie bei Metzler (Imprint von Springer). Zu seinen Forschungsgebieten gehören die germanischen Sprachen (u.a. im Hinblick auf Grammatikalisierung, Konstruktionsgrammatik/-morphologie und Sprachkontakt) sowie Diskursanalyse im Hinblick auf politische und historische Sprachideologien und Sprachenpolitik.