Bernd Wiese (IDS)

Deklinationsklassen im Sprachvergleich

Abstract

Ziel dieses Beitrages ist es, zu zeigen, wie Beobachtungen aus dem Sprachvergleich (ausgehend von den Untersuchungssprachen des IDS-Projekts Deutsche Grammatik im europäischen Vergleich, darunter Englisch, Polnisch und Ungarisch) gewinnbringend für die Analyse der deutschen Substantivflexion genutzt werden können.

Traditionelle Beschreibungen haben sich am Vorbild der Grammatiken der klassischen Sprachen (insbesondere Latein) orientiert. Das dabei verwendete Paradigmenmodell ist auf reich entwickelte fusionierende Flexionssysteme zugeschnitten und findet entsprechend auch bei der Beschreibung von Sprachen wie dem Polnischen Verwendung. Deklinationsklassen gehören zu den Grundbausteinen solcher Beschreibungen. In Analysen von Sprachen mit wenig ausgebautem Flexionssystem (wie Englisch) sowie von Sprachen mit vorherrschend agglutinierender Morphologie (wie Ungarisch) spielen Deklinationsklassen dagegen gewöhnlich keine Rolle. Solche Systeme entsprechen eher den Annahmen, auf denen morphembasierte Analysen beruhen. Die deutsche Nominalflexion zeigt dagegen eine Mischung von Eigenschaften, die sich teils besser in morphembasierte Modelle, teils besser in paradigmenbasierte Modelle einzufügen scheinen.

Das Paradigmenmodell führt, angewandt auf die deutsche Substantivflexion, trotz vergleichsweise beschränktem Kategoriensystem und fortgeschrittenem Flexionsabbau zur Postulierung einer hohen Zahl von Deklinationsklassen, die in verschiedenen Darstellungen zudem stark schwankt und für die eine nichtarbiträre Basis und eine anerkannte Systematik fehlt. Versuche zur Modifikation des traditionellen Modells, etwa durch Annahme getrennter Singular- und Pluralklassen oder durch Erweiterung um Regeln für die Suffigierung, haben nur beschränkt weitergeführt.

Der Sprachvergleich kann hier weiterhelfen. Die Betrachtung des Baus der deutschen Substantivflexion vor dem Hintergrund der Optionen morphologischer Markierung, die die Vergleichssprachen zeigen, bietet wichtige Hinweise für eine begründete Identifizierung der elementaren Bausteine des Systems der Substantivflexion und ermöglicht eine Neubewertung der Rolle, die Deklinationsklassen in der deutschen Substantivflexion spielen. Entgegen der traditionellen Annahme, nach der Deklinationsklassen irreduzible Grundelemente des Systems darstellen, erweisen sich Paradigmen und daher Deklinationsklassen im Deutschen als ableitbar, wenn eine geeignete Konzeption morphologischer Kennzeichen (wie -(e)n/Plural) zugrunde gelegt wird. Die augenfällige Vielfalt der Deklinationen ergibt sich aus dem Zusammenspiel verschiedener für die Formenbildung relevanter, aber unabhängiger Faktoren (darunter Genus und Stammtyp), die sich in ihren Wirkungen überschneiden.