Gert Webelhuth (Universität Frankfurt)

Paradigmenwechsel rückwärts: die Renaissance der grammatischen Konstruktion

Abstract

Im letzten halben Jahrhundert hat in der formalen Grammatikforschung eine intensive Diskussion über die Natur syntaktischer und lexikalischer Information stattgefunden. Während in den fünfziger und sechziger Jahren Phrasenstruktur- und Transformationsregeln die primären Werkzeuge zur Erfassung linguistischer Generalisierungen darstellten, kam das Lexikon durch Chomskys Lexikalistische Hypothese zum Beginn der siebziger Jahre mehr und mehr in den Fokus linguistischer Theoriebildung. Durch die Entwicklung der X-bar-Theorie, von Theta-Hierarchien und Linking-Theorien wurden immer umfangreichere Teile der syntaktischen Struktur von Sprachen als Projektion aus lexikalischer Information konstruiert. Als Folge dieser Lexikalisierungstendenz entstanden u.a. die Prinzipien- und Parametertheorie und die Head-Driven Phrase Structure Grammar (HPSG), die auf jeweils verschiedene Weisen die Anzahl sprachspezifischer phrasaler Konstruktionen zu minimieren versuchen, möglicherweise auf Null. Die HPSG sieht in diesem Zusammenhang das Lexikon nicht als Gefängnis an, dessen "Insassen" nur eines, nämlich die Gesetzlosigkeit, gemeinsam haben (Di Sciullo und Williams 1987), sondern setzt im Lexikon Mechanismen der Generalisierung wie Typen und Vererbung ein, die in anderen Bereichen der Wissensrepräsentation Anwendung finden. Das ermöglicht es, auf elegante Weise die Interaktion von allgemeinen und idiosynkratischen Eigenschaften zu erfassen, die im Zentrum der Argumentation von Chomskys Remarks on Nominalization und späteren Arbeiten von Halle, Aronoff und anderen standen. Diese lexikalischen Informationen werden dann kopfgetrieben in Phrasen projiziert. Seit dem Ende der achtziger Jahre (siehe z.B. Fillmore et al. 1988) ist mit der Konstruktionsgrammatik eine Bewegung entstanden, die auch die Information in Phrasen als das Resultat des Zusammenspiels allgemeiner und idiosynkratischer Faktoren sieht, die auf der Basis von Konstruktionen und Vererbung elegant modelliert werden können.

Mein Vortrag wird wichtige historische Meilensteine in der Entwicklung der Arbeitsteilung zwischen dem Lexikon und dem phrasalen System mit Bezug auf die Frage nach der Existenz und der Natur von grammatischen Konstruktionen beleuchten. Ausgesuchte Strukturen des Deutschen werden miteinander hinsichtlich der Frage kontrastiv untersucht, ob sie gewinnbringender lexikalisch oder konstruktional analysiert werden.