Beatrice Primus (Universität Köln)

Semantische Rollen zwischen Verbspezifizität und Generalisierung

Abstract

Die verbale Argumentstruktur umfasst die morpho-syntaktischen Funktionen und die semantischen Rollen, die ein verbales Prädikat selegiert. Sie steht im Zentrum der Diskussion über das Verhältnis zwischen Lexikon und Grammatik und der Debatte zwischen konstruktionsbasierten und regelbasierten Ansätzen. Das Ergebnis dieser Diskussion wird von der vertretenen Rollenkonzeption entscheidend geprägt. Es gibt grob gesprochen zwei Forschungsrichtungen. Zum einen werden semantische Rollen als verbspezifische Funktionen, wie bspw. der Leser und das Gelesene für das Verb lesen, konzipiert. Verbspezifische Rollen wie diese werden ggf. zu allgemeineren Rollen wie Agens, Patiens, Experiencer, Thema, Rezipient oder Benefaktiv zusammengefasst und in prinzipiell offenen Rollenlisten aufgezählt. Zum anderen werden generalisierte semantische Rollen angenommen, die prototypentheoretisch als Proto-Agens und Proto-Patiens oder als strukturelle Relationen auf der Grundlage dekompositioneller verbsemantischer Strukturen aufgefasst werden.

Neuere Forschungsansätze gehen davon aus, dass rollensemantische Information mindestens zwei Dimensionen umfasst, die in den oben angesprochenen Ansätzen isoliert betrachtet und somit nicht angemessen erfasst werden (u.a. Levin 2004, Primus 2004). Eine Dimension ist struktureller Natur. Strukturelle Rolleninformation basiert auf einer sehr allgemeinen rollensemantischen Abhängigkeitsrelation zwischen den Ko-Argumenten eines Prädikats (Ko-Argument-Dependenz), die verbunabhängig Rollenpaare asymmetrisch ordnet. Diese Asymmetrie liegt verbspezifischen Rollen (Leser vs. Gelesenes, Seher vs. Gesehenes), gelisteten Rollen (Agens vs. Patiens bei lesen, Experiencer vs. Stimulus bei sehen) und generalisierten Rollen (Proto-Agens vs. Proto-Patiens bei lesen und sehen) gleichermaßen zugrunde. Die andere Dimension spezifiziert die Art und Weise, wie ein Partizipant in der vom Verb bezeichneten Situation involviert ist (Involviertheit). In dieser Dimension gibt es Agensvarianten mit unterschiedlichen Graden und Arten der Kontrolle (Leser vs. Seher) und Patiensvarianten mit unterschiedlichen Graden und Arten der Betroffenheit (Gelesenes vs. Gesehenes). Bei einer sehr feinkörnigen Betrachtungsweise bestimmt ein Verblexem die lexemspezifische Involviertheit seiner Partizipanten.

In diesem Vortrag werden die beiden Dimensionen der Rollensemantik anhand ausgewählter Erscheinungen (Grundabfolge der Argumente, unpersönliches Passiv) insbesondere im Hinblick auf die Debatte zwischen regelbasierten und konstruktionsbasierten Ansätzen ausgelotet. Dabei werden sprachvergleichende, korpusbasierte und experimentelle Daten mitberücksichtigt. Folgende Fragen stehen im Mittelpunkt: Bei welchen Erscheinungen spielt strukturelle Rolleninformation eine Rolle? Wie wirkt sich diese Dimension aus? Bei welchen Erscheinungen spielt die Art der Involviertheit eine Rolle? Welche Charakteristika weisen solche Erscheinungen auf? Wie kommen regelbasierte und konstruktionsbasierte Ansätze mit diesen Dimensionen zurecht?

Zitierte Literatur:
Levin, Beth. 2004. Verbs and Constructions: Where Next? Western Conference on Linguistics, University of Southern California, Los Angeles, CA, November 12-14, 2004.
Primus, Beatrice. 2004. Division of labour: The role-semantic function of basic order and case. In: Willems, Dominique et al. (eds.) Contrastive analysis in language. Identifying Linguistic Units in Comparison. Palgrave Macmillan, 89-136.