Regeln oder Konstruktionen? Verblose Direktive und mehr
Abstract
Linguistische Ausdrücke, die offensichtlich aus kleineren Teilen zusammengesetzt sind, deren formale oder funktionale Eigenschaften jedoch nicht auf der Basis dieser kleineren Teile bestimmt werden können, kann man als Konstruktionen bezeichnen. Eine Standardannahme in regelbasierten Grammatikmodellen ist es, dass komplexe linguistische Ausdrücke ins Lexikon gehören, wenn sie Konstruktionen sind, und in einem regelbasierten Bereich der Grammatik erfasst werden, wenn sie keine Konstruktionen sind. Dies führt zu einer inhomogenen und konzeptuell daher wenig attraktiven Theorie, die zwei mögliche Quellen für komplexe linguistische Ausdrücke vorsieht: Lexikon und Grammatik.
Grundsätzlich gibt es zwei Auswege aus diesem Dilemma: Zum einen kann man die Rolle von Konstruktionen stärken, so dass Konstruktionen viel (Jackendoff, Culicover) oder sogar alles (Goldberg, Tomasello, Ackermann & Webelhuth) von dem abdecken, was traditionell von grammatischen Regeln behandelt wird. Zum anderen kann man aber auch versuchen, die Rolle von Regeln zu stärken, so dass Regeln viel oder sogar alles von dem abdecken, wofür man typischerweise Konstruktionen bemüht.
In diesem Vortrag möchte ich anhand einer Reihe von Phänomenen, vor allem der in letzter Zeit von Jacobs (2008) und Wilder (2009) analysierten sogenannten "verblosen Direktive" (wie in "Her mit dem Geld!"), die auf den ersten Blick wie Musterexemplare für Konstruktionen aussehen, argumentieren, dass ein ausschließlich regelbasierter Ansatz nicht nur deskriptiv konkurrenzfähig ist, sondern darüber hinaus auch explanativ überlegen; verblose Direktive erweisen sich dabei als mehr oder weniger kanonischer Typ von Antipassiv-Bildung im Deutschen, was von einer aus dem Isländischen gut bekannten Umstellungsregel (der "stilistischen Voranstellung") begleitet wird. Die allgemeine Konklusion wird sein, dass es vermutlich gar keine Konstruktionen gibt.