Renate Raffelsiefen

Zur Prosodie morphologisch komplexer Wörter

Abstract

In der von Mangold bearbeiteten Auflage des Mannheimer DUDEN-Aussprachewörterbuchs werden die Züge der Standardlautung eingangs wie folgt charakterisiert:

  1. Sie ist überregional (sie enthält keine landschaftlichen Ausspracheprägungen)
  2. Sie ist einheitlich (Varianten werden ausgeschaltet oder auf ein Mindestmaß beschränkt)
  3. Sie ist schriftnah (sie wird weitgehend durch das Schriftbild bestimmt)
  4. Sie ist deutlich (sie unterscheidet die Laute stärker als die Umgangslautung)
  5. Sie orientiert sich an der Sprechwirklichkeit (sie orientiert sich nicht mehr an der als übersteigert empfundenen Bühnenaussprache)

Die Erläuterung des letzten Punkts weist auf die Absicht hin, sich von der Siebschen Tradition der Normierung der Standardlautung abzugrenzen. Dennoch ist das Kernstück dieser Tradition, nämlich die Bestimmung durch das Schriftbild, erhalten, obwohl ein solches Kriterium aus sprachwissenschaftlicher Sicht höchst seltsam anmutet und in den wichtigen Aussprachewörtern etwa des Französischen oder Englischen unerwähnt ist. Während Überregionalität, Einheitlichkeit und Deutlichkeit als direkte Konsequenzen der geforderten Schriftnähe angesehen werden können, wäre eine Übereinstimmung zwischen Schriftnähe und Sprechwirklichkeit eher unerwartet. Der Grund liegt darin, dass die Phonologie einer Sprache durch eine Interaktion verschiedener Beschränkungen geprägt ist, die potentiell miteinander in Konflikt stehen. Verschiedene Lösungen solcher Konflikte finden ihren Ausdruck in Varianten, wobei die "beste" Variante in manchen Fällen aufgrund von Schriftnähe ausgewählt werden mag, in anderem Fällen dieses Kriterium aber gänzlich versagt.

In dem Vortrag werden zunächst Aussprachevarianten präsentiert, die einen Konflikt zwischen sog. Markiertheitsbeschränkungen einerseits und sog. Treuebeschränkungen andererseits widerspiegeln (z.B. Kanú ~ Kánu, G[u:]lasch ~ G[u]lasch). Phonologische Markiertheitsbeschränkungen beschreiben etwa Wohlgeformtheitsbedingungen von Silben oder Fußstrukturen. Treuebeschränkungen beziehen sich auf die getreue Wiedergabe des Wahrgenommenen, das auch das Schriftbild einschließt. Im zentralen Teil geht es um Aussprachevarianten, die durch Konflikte mit einem weiteren Typ von Beschränkungen geprägt sind, sog. Bündigkeitsbeschränkungen. Diese betreffen nur morphologisch komplexe Wörter und bezeichnen den regelhaften Zusammenfall wortinterner Morphemgrenzen mit den Grenzen bestimmter prosodischer Konstituenten wie Silbe oder Fuß. Der Bezug auf solche Beschränkungen ist wesentlich um Aussprachevarianten wie Désinteresse ~ Desinterésse, O[p]late ~ O[b]late, He[p]amme ~ He[b]amme erklären zu können. Gleichzeitig ist ein genaues Veständnis der zugrundeliegenden Konflikte notwendig, um die Varianten hinsichtlich ihrer Stellung im System zu beurteilen.