Vierzig Jahre Begriffsgeschichte - The State of the Art
Abstract
1. Von der Begriffsgeschichte zur historischen Semantik
Es besteht keine Veranlassung, die Begriffsgeschichte "einer abgeschlossenen Epoche der Geisteswissenschaften" (Gumbrecht) zuzurechnen. Zu einem gewissen Stillstand gekommen ist (im deutschen Sprachraum) die Ära der lexikalischen Großprojekte, aber gerade deren Abschluss ermöglicht neue Fragen. So hat sich die Begriffsgeschichte in den letzten zehn Jahren internationalisiert, sie nimmt bisher vernachlässigte Zeiträume in den Blick (Mittelalter, 20. Jahrhundert), erstreckt sich auf neue Wissensgebiete (Religion, Natur), setzt sich mit theoretischen Herausforderungen durch Diskursanalyse, Rhetorik, Systemtheorie, Computerlinguistik u.a. auseinander und erweitert dabei ihr Methoden- und Fragenrepertoire. Die Disziplin hat sich schon lange verabschiedet von einer bloß lexikographischen, auf entkontextualisierte Höhenkammzitate beschränkten Geschichte einzelner Wörter und ihrer Bedeutungen. Tatsächlich entsprach Begriffsgeschichte, wie sie von Reinhart Koselleck konzipiert wurde, nie diesem Zerrbild. Inzwischen werden semantische Netze und Text-Bild-Beziehungen synchron und diachron untersucht; es entstehen vermehrt sprachpragmatische Studien zu Gebrauch und Funktion von Argumentationsformen, Satzmustern, Texten in konkreten historischen Handlungszusammenhängen; die Grenzen zur Diskursanalyse werden in der Forschungspraxis fließend. Als Bezeichnung für dieses erweiterte Forschungsfeld ist der Terminus ‘Historische Semantik’ vorzuziehen.
2. Theorie- und Methodenprobleme der Begriffsgeschichte im engeren Sinne
a) Haben Begriffe eine Geschichte? Eine noch immer andauernde Diskussion kreist um die Frage, ob Begriffe überhaupt eine Geschichte haben, die sich schreiben lässt. Sollte man, so eine mögliche Alternative, statt von Begriffsgeschichten nicht präziser von Wortverwendungs- oder Wortbedeutungsgeschichten sprechen? Der Sache nach tendiere ich zu dieser, u.a. von Quentin Skinner gegen Koselleck bezogenen Position. In der Forschungspraxis ist aber nichts dagegen einzuwenden, die etablierte Bezeichnung Begriffsgeschichte beizubehalten, solange klar ist, was man damit meint.
b) Hermeneutik und andere Methoden. Ein ernstzunehmender Vorwurf gegen die Begriffsgeschichte in der Tradition Kosellecks lautet, sie verfahre bei der Auswahl der politisch-sozialen 'Grundbegriffe' intuitiv und lasse sich dabei durch Relevanzkriterien leiten, die der Moderne angehörten oder/und der herkömmlichen Ideengeschichte entstammten. Insbesondere von der vormodernen Begriffswelt würden so nur diejenigen Stränge erfasst, die zu den modernen Begrifflichkeiten hingeführt hätten. Um dieser implizit teleologischen Sichtweise zu entgehen, sind von Historikern verschiedene Verfahren entwickelt und erprobt worden: zum einen Frequenzanalysen (Reichardt) und computergestützte Kollokationsanalyen (Jussen), zum anderen problemorientierte semantische Analysen von Satztypen (Steinmetz). Derartige Verfahren, die noch weiter zu verfeinern sind, ermöglichen es, in den Quellentexten Schlüsselvokabeln und größere semantische Netze methodisch kontrollierbar aufzufinden, die vormoderne (oder anderweitig uns fremde) Diskurse gesteuert haben, jedoch bei einer bloß hermeneutisch geleiteten Lektüre verborgen bleiben.
c) Diachronie, Mikro-Diachronie und die historische Erklärung semantischen Wandels. Die lexikographische Begriffsgeschichte hat die diachrone Perspektive bevorzugt; sie hat sich darauf konzentriert, die Vervielfältigung, Verschiebung und Verdrängung von Bedeutungen, die sich an ein Wort oder größere Cluster von Wörtern im Zeitverlauf angelagert haben, über Jahrhunderte hinweg zunächst einmal beschreibend nachzuzeichnen. Darüber hinaus hat sie versucht, die Bedeutungsveränderungen zur sogenannten Real- oder Sozialgeschichte in Beziehung zu setzen und daraus allgemeine Beobachtungen zum Verhältnis zwischen Sprachwandel und sozialem Wandel abzuleiten. So notwendig diese diachrone Betrachtungsweise ist, so wenig ist sie geeignet, die Veränderungen der Relation zwischen Wörtern, Begriffen und Sachverhalten tatsächlich zu erklären. Konkrete Vorgänge der Bedeutungsanreicherung, verschiebung oder verdrängung lassen sich nur in der Mikro-Diachronie verfolgen. Nur durch die Betrachtung konkreter sprachlicher Interaktionen wird erkennbar, wie und warum Sprecher/Schreiber bestimmte Wörter einmal so, ein anderes mal anders verwendeten, und wie und warum Hörer/Leser sie so oder anders verstanden. Je mehr mikro-diachrone Forschungen dieser Art entstehen, desto mehr scheinen sich die linearen Erzählungen der diachron verfahrenden Begriffsgeschichte aufzulösen. Lassen sich gleichwohl bestimmte wiederkehrende (oder sogar zeittypische) Muster des semantischen Wandels im Verhältnis zum sozialen Wandel identifizieren? Dies ist eine offene Frage, zu der sich vorläufig nur abstrakte Hypothesen formulieren lassen. Vor allem drei Muster des semantischen Wandels werden im Vortrag kurz erörtert: (1) Plausibilitätsverlust von Wörtern oder Redeweisen durch überraschende Ereignisse und Umbrüche, (2) Zunahme des strategischen Gebrauchswerts (aus verschiedenen Gründen) von Wörtern oder Redeweisen in wiederkehrenden Kommunikationssituationen, (3) Irritation des Wort- und Bedeutungshaushalts einer Sprache durch Wortimporte aus einer anderen Sprache.
d) Hängt der Begriff am Wort? In der Geschichtswissenschaft, aber auch beispielsweise in der Ethnologie, entstehen immer wieder Schwierigkeiten daraus, dass in früheren Epochen (oder fremden Sprachen) Wörter zu fehlen scheinen, die in späteren Epochen (oder der eigenen Sprache) auf einen bestimmten komplexen Begriff verweisen. Nur zwei Beispiele: Ist es legitim, von ‘Staat’ und ‘Politik’ oder dem ‘Politischen’ im europäischen Frühmittelalter zu sprechen, wenn entsprechende Wörter, welche die damit gemeinten komplexen Vorstellungen auch nur annähernd in gleicher Weise bündeln, nicht existierten? Darf man chinesische Ahnenverehrung des 3. Jahrhunderts vor Christus oder Pilgerfahrten zu Sufi-Schreinen im Moghulreich des 16. Jahrhunderts unter den Oberbegriff ‘Religion’ subsumieren, wenn der Religionsbegriff selbst nachweislich eine europäische Erfindung des 18. Jahrhunderts ist, um eben diese disparaten, fremdartigen Phänomen auf einen ordnenden Begriff zu bringen? Für analytische Zwecke, etwa zur soziologischen Theoriebildung, mag man dies sicher tun, aber erfasst man damit noch die begriffene ‘Wirklichkeit’ der damaligen Zeitgenossen? Begriffsgeschichte kann gewiss davor schützen, Zeitgenossen früherer Epochen Vorstellungen und Begriffe zu unterstellen, die sie (vielleicht) gar nicht hatten. Aber umgekehrt scheint die Nicht-Existenz eines Worts für einen bestimmten Begriff auch kein sicheres Indiz dafür zu sein, dass die Zeitgenossen tatsächlich über die Vorstellungen, die heute mit dem betreffenden Begriff und ‘seinem’ Wort verbunden werden, nicht verfügten. Im Vortrag werden Möglichkeiten erörtert, wie man diesem Dilemma entkommen kann; eine einfache Lösung gibt es jedoch nicht.
3. ‘Großbaustellen’ der Historischen Semantik
Zum Abschluss des Vortrags werden einige Forschungsfelder vorgestellt, in denen sich die historische Semantik zur Zeit rapide entwickelt. Nur kurz eingehen werde ich
(a) auf Möglichkeiten des Computereinsatzes zur Lösung historisch-semantischer Fragen,
(b) auf Beziehungen zwischen der Semantik sprachlicher und visueller Zeichen.
Ausführlicher erörtern werde ich
(c) das Verhältnis zwischen Semantiken, Sozialstrukturen und dem, was ich Konstellationen nenne,
(d) die neuen praktischen und theoretischen Fragen, die sich aus der Internationalisierung und Transnationalisierung der historischen Semantik ergeben (‘nationale’ begriffshistorische Großprojekte, vergleichende und beziehungsgeschichtliche historische Semantik, Übersetzbarkeit oder Unübersetzbarkeit).