Prof. Dr. Dmitrij Dobrovol'skij

Idiom-Modifikationen aus kognitiver Perspektive

Abstract

Idiom-Modifikationen aus kognitiver Perspektive zu beschreiben heißt in erster Linie, die allgemeinen Mechanismen, die die betreffenden Variationsmöglichkeiten bzw. -restriktionen steuern, aufzudecken. Die Annahme, dass die Sprecherinnen und Sprecher jede konkrete Idiom-Modifikation als einen besonderen Lexikoneintrag memorieren, erscheint eher unwahrscheinlich. Eine alternative Erklärung verlangt die Hinwendung zur formalen und semantischen Struktur des Idioms, u.a. zur Struktur der zugrunde liegenden Metapher. Eine systematische Untersuchung der Idiom-Modifikationen wird dadurch erschwert, dass ein und dieselbe Modifikationsart unterschiedliche Effekte haben kann. Sie reicht von völlig unauffälligen bis hin zu unverständlichen Idiom-Realisierungen. Es stellt sich die Frage nach den Ursachen.

Eine theoretische Auseinandersetzung mit dieser Problematik verlangt zunächst eine linguistisch plausible und klare Typologisierung von Modifikationen der Idiomstruktur. Dabei handelt es sich um verschiedene, voneinander grundsätzlich unabhängige Parameter, die streng auseinander zu halten sind.

1. Im ersten Schritt sollen die Idiom-Modifikationen auf Grund formaler Merkmale typologisiert werden. Jede Idiomvariante soll zunächst rein "technisch" klassifiziert und beschrieben werden ohne Bezug zu inhaltlichen (d.h. zu semantischen, stilistischen, pragmatischen, diskursiven u.ä.) Besonderheiten der zu vergleichenden Varianten. Mit anderen Worten, als erstes ist die Frage zu beantworten, wie die Form des Idioms modifiziert, d.h. was genau in seinem Ausdrucksplan verändert wurde. Hier können zwei Oppositionstypen unterschieden werden: einerseits die Gegenüberstellung verschiedener Variationstypen und andererseits die Gegenüberstellung konkreter Variationstechniken.

1.1. Unter Variationstypen sind zunächst morphologische, lexikalische oder syntaktische Modifikationen der Idiomstruktur zu verstehen. Zu den erstgenannten gehören rein morphologische Alternativen wie Variationen im Numerus der substantivischen Konstituente. Lexikalische Variationen setzen eine Veränderung des Konstituentenbestandes voraus, wobei unterschiedliche Variationstechniken denkbar sind. Es finden sich auch morpholexikalische Variationen wie der Ersatz der substantivischen Konstituente durch ihre Diminutivform. Zu syntaktischen Modifikationen werden u.a. Topikalisierung, Passivierung, Nominalisierung von Verbalphrasen (darunter auch Substantivierung der Verb-Konstituente), Adjektivierung von Verbalphrasen, Attribut-Relativsatz-Transformation, Anaphorisierung, Bildung von Fragesätzen, von imperativischen Sätzen u.ä. gezählt. Syntaktische Modifikationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie in vielen Fällen (jedoch nicht immer) regelgeleitet sind (vgl. Opposition 4). Ferner unterscheiden sich die syntaktischen Modifikationen von den lexikalischen vor allem dadurch, dass sie nicht die Bedeutung des Idioms als einer Lexikoneinheit verändern. Terminologisch können sie von den übrigen Modifikationen dadurch abgesetzt werden, dass sie auch als Transformationen bezeichnet werden. Ferner finden sich gemischte lexikalisch-syntaktische Modifikationen wie Relativsatz-Einschub oder Adjektiv-Einschub. Sie kombinieren eine Veränderung der syntaktischen Struktur mit der Modifikation der lexikalischen Bedeutung.

1.2. Zu Variationstechniken werden formale Veränderungen der Idiomstruktur wie Einschub, Substitution oder Eliminierung von Konstituenten gezählt. Jede dieser Modifikationen hat verschiedene konkrete Ausprägungen mit unterschiedlichen semantischen und pragmatischen Folgen (vgl. z.B. die Substitution der nominalen Konstituente durch ihr Antonym vs. die Substitution des bestimmten durch den unbestimmten Artikel).

2. Eine von 1 grundsätzlich unabhängige Opposition bildet die Gegenüberstellung von standardmäßigen (unauffälligen, normgerechten, usuellen) und nonstandardmäßigen (d.h. normabweichenden) Modifikationen. Diese Unterscheidung erfolgt auf der Ebene des Lexikons, d.h. entscheidend ist die Frage, ob die betreffende Modifikation die für das entsprechende Idiom im Lexikon festgelegten Grenzen der Variationsfreiheit verletzt oder nicht.

2.1. Unter den nonstandardmäßigen Modifikation sind ferner "gelungene" (d.h. durch Kontext und Situation gerechtfertigte, kreative) und "nicht gelungene" (d.h. als fehlerhaft zu beurteilende) Modifikationen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist bis zu einem gewissen Grad subjektiv, weil sie die Sicht des urteilenden Produzenten bzw. Rezipienten involviert.

2.2. Die unter 2.1 genannte Opposition hängt mit der Gegenüberstellung der Produzenten- und der Rezipientensicht zusammen, d.h. die aus der Produzentensicht als "gelungen" empfundenen Modifikationen können aus der Rezipientensicht als "nicht gelungen" beurteilt werden. Als Grundlage für die Einschätzung dienen die semantischen und pragmatischen Effekte, die die Modifikation auslöst.

3. Eine weitere Opposition beruht ebenfalls auf den semantischen und pragmatischen Effekten der Idiom-Aktualisierungen. Es handelt sich um die Gegenüberstellung einer sprachspielerischen Gebrauchsweise von Idiomen und ihrer "ernsten" Verwendung. Wichtig ist dabei, dass die Opposition Spiel vs. Nicht-Spiel mit der Modifikation der Idiomstruktur nur partiell zusammenhängt. Eine sprachspielerische Gebrauchsweise eines Idioms kann erfolgen, ohne dass seine Struktur in irgendeiner Weise verändert wird. Die Einbettung des Idioms in einen spezifischen Kontext reicht oft allein für die Entstehung relevanter pragmatischer Effekte (vgl. die sog. textsemantischen Modifikationen). Mit anderen Worten, nicht jede sprachspielerische Idiom-Aktualisierung beruht auf der linguistischen Technik der Modifikation, und nicht jede Modifikation (selbst wenn sie nonstandardmäßig ist und als "gelungen" beurteilt wird) führt zu sprachspielerischen Effekten. Die Opposition Spiel vs. Nicht-Spiel gehört also, streng genommen, nicht in den uns hier interessierenden Bereich, hängt aber mit der Problematik der Idiom-Modifikationen insofern zusammen, als Modifikationen der Idiomstruktur oft (und dies besonders in den Pressetexten) als Sprachspiel empfunden werden.

3.1. Wenn man sich auf die Betrachtung "gelungener", d.h. kreativer nonstandardmäßiger Modifikationen beschränkt (und nur diese sind aus der Perspektive von Opposition 3 relevant), ist die Gegenüberstellung von Sprachspiel mit Idiomen und ihrer nonstandardmäßigen inhaltlichen Anpassung an den jeweiligen Kontext besonders relevant.

4. Als letzte Opposition ist die Kontroverse der regelgeleiteten und idiosynkratischen Modifikationen zu nennen. "Idiosynkratisch" ist eine Modifikation, die sich nicht aus einer lexikalischen oder syntaktischen Regel ableiten lässt, sondern gesondert beim Lexem im Lexikon zu vermerken ist. Während also die idiosynkratischen Modifikationen als Listen erfasst werden müssen und in diesem Sinne für die Theorie der Phraseologie kaum von Interesse sind, bilden die regelgeleiteten Modifikationen den Gegenstand der sog. Grammatik der Idiome, die als eine Untermenge der Grammatik des Lexikons zu verstehen ist. Aus diesem Grund wird in dem Vortrag vor allem den regelgeleiteten Idiom-Modifikationen Aufmerksamkeit geschenkt.

Zwischen den genannten Parametern und Oppositionen können bestimmte Korrelationen bestehen, dies braucht aber nicht der Fall zu sein. Aus diesem Grund erscheint es plausibel, sie zunächst unabhängig voneinander zu betrachten. Jede konkrete Idiom-Modifikation kann gleichzeitig nach verschiedenen Parametern charakterisiert werden. Vgl. den folgenden Kontext:

UNICEF, das Kinderhilfswerk der UNO, sagt: Seit dem Golfkrieg starben im Irak rund eine Million Menschen an den Folgen der UN-Sanktionen. Ein Drittel aller irakischer Kinder sind chronisch unterernährt. Vier- bis fünftausend verhungern jeden Monat. Ich bin ein glühender Pro-Amerikaner, und auch Clinton ist mir sympathisch. Aber da stehen mir alle meine humanistischen und demokratischen Haare zu Berge.
(Neue Kronen-Zeitung, 27.02.1998)

Es handelt sich dabei um eine lexikalisch-syntaktische Modifikation (Variationstyp), und zwar um einen Adjektiv-Einschub (Variationstechnik). Ferner ist dies eindeutig eine nonstandardmäßige Modifikation, die als "gelungen" (d.h. durch Kontext und Situation gerechtfertigt) eingestuft werden kann. Dies ist keine sprachspielerische Modifikation, sondern vielmehr eine inhaltliche Anpassung des Idioms an den jeweiligen Kontext. Diese Modifikationsart ist in hohem Maße regelgeleitet, denn sie wird in diesem Fall als kreativ empfunden, d.h. als eine Modifikation, die das Erzielen nichttrivialer semantischer und pragmatischer Effekte bewirkt, weil hier eine Regel des standardmäßigen Gebrauchs dieses Idioms verletzt wird. Damit ein Adjektiv-Einschub als standardmäßig empfunden wird, müssen zwei Bedingungen erfüllt werden:

  • das Idiom muss semantisch teilbar (dekomponierbar) sein, d.h. die adjektivisch zu modifizierende Nominalphrase muss im Konstituentenbestand des Idioms eine gewisse semantische Selbständigkeit aufweisen, sonst ist ihre adjektivische Modifikation semantisch nicht ohne weiteres sinnvoll (so sind die humanistischen und demokratischen Haare nur als ein Beispiel nonstandardmäßiger, kreativer Sprachverwendung zu interpretieren), und
  • die betreffenden Adjektive müssen semantisch sowohl mit der aktuellen Bedeutung des Idioms als auch mit seiner wörtlichen Lesart, d.h. mit der zugrunde liegenden Metapher konsistent sein; in dem oben angeführten Beispiel korrelieren die Adjektive humanistisch und demokratisch mit der aktuellen Bedeutung (der Autor "ist entsetzt" vor dem Hintergrund seiner humanistischen und demokratischen Überzeugung), nicht aber mit der wörtlichen Lesart: Haare können weder humanistisch noch demokratisch sein.

Daraus erklären sich die semantischen und pragmatischen Effekte der Idiom-Modifikation im analysierten Kontext.