Prof. Dr. Arnulf Deppermann

Verstehen im Gespräch

Abstract

Die Hermeneutik, später auch die cultural studies oder die empirisch-psychologische Textrezeptionsforschung haben sich damit befasst, wie Leser Texten Sinn zuschreiben. Sozialphilosophen (wie etwa Weber, Schütz, Mead, Habermas) sehen in Prozessen der symbolvermittelten Verständigung das alltagsweltliche Fundament der sozialen Welt und der Möglichkeit gesellschaftlicher Integration. Mit dem Verstehen werden dabei oftmals emphatisch aufgeladene normative Qualitäten verknüpft.

Wie aber verhalten sich diese, aus der Analyse der Schriftlichkeit und der zeichen- und sozialtheoretischen Reflexion entstandenen Konzeptionen des Verstehens zum alltagsweltlichen Verstehen im Gespräch? Ist hier eigentlich vom gleichen Vorgang die Rede? Sind mentalistische, normative und leserbezogene Konzepte des Verstehens brauchbar für die Analyse beobachtbarer Prozesse der Herstellung von Intersubjektivität in Gesprächen?

Ein neues Forschungsprojekt der Abteilung Pragmatik des IDS widmet sich dem Thema "Sprachlich-kommunikative Verfahren der Dokumentation von Verstehen in der verbalen Interaktion". Es untersucht anhand von Audio- und Videoaufnahmen authentischer Gespräche, wie Gesprächsteilnehmer einander anzeigen, wie sie Beiträge ihrer Partner verstehen und wie ihre eigenen Äußerungen verstanden werden sollen.

Der Vortrag exponiert zunächst die die theoretische und methodologische Problematik der Untersuchung von "Verstehen im Gespräch". Anhand von empirischen Beispielen werden dann elementare sequenzielle Organisationsformen und typische sprachliche Manifestationen der Dokumentation und der Verhandlung von Verstehen im Gespräch aufgezeigt. Diese sprachlichen und interaktiven Formen deuten darauf hin, dass Verstehen im Gespräch sich durch weitgehende Lautlosigkeit und Ökonomie, durch Vagheit, Revidierbarkeit und pragmatisch motivierte Selektivität auszeichnet. Intersubjektivität stellt sich dabei als systematisch organisiertes, doch stets prekäres Prozessphänomen dar, das auf der soziokognitiven Infrastruktur der sequenziellen Organisation von Gesprächen beruht. Wenn Gesprächsteilnehmer Verstehen explizit thematisieren, hat dies fast immer auch gesprächsrhetorische Funktionen: Gesprächsverläufe werden zur Disposition gestellt und neu ausgerichtet, Fragen der Verständlichkeit von Beiträgen werden in den Dienst der Akzeptanz und der Durchsetzung von Positionen gestellt.