Prof. Dr. Manfred Bierwisch

Bedeuten die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt?

Abstract

Die grundlegende, letztlich genetisch verankerte Eigenschaft der Sprachfähigkeit, durch die sie zum entscheidenden Spezifikum des Menschen wird, ist die Disposition zur systematischen Kombinatorik von Symbolen. Dabei sind mit Symbolen Zeichen gemeint, die auf arbiträren, gedächtnisfixierten Verbindungen von Signalen mit Strukturen der inneren und äußeren Umwelterfahrung beruhen. Sie setzen die Fähigkeit zur Erkennung und Erzeugung komplexer Signalstrukturen und die begrifflich-klassifizierende, am inneren Modell der Umwelt orientierte Verhaltensorganisation voraus. Der arbiträre Charakter der Verbindung von Signal und Bedeutung macht symbolische Zeichen unabhängig von der Bedingung, dass das Signal durch Ähnlichkeit, durch Situations- oder Kausalbezug mit dem verbunden ist, wofür es steht. Dadurch ist der Bereich sprachlicher Bedeutungen nicht eingeschränkt auf Nachahmbarkeit, Kausalbeziehung oder direkten Konnex: das Zeichen für Kugel muss nicht rund sein, das Zeichen für Schmerz muss nicht weh tun. Das bedingt aber zugleich, dass sowohl die Signale wie ihre Bedeutungen auf invarianten Strukturen beruhen, also abstraktiv sind.

Entscheidend ist nun, dass die Sprachfähigkeit die Grundlage ist für die Kombination von Symbolen und damit für die Möglichkeit, beliebig neue Zeichengestalten mit systematisch festgelegten Bedeutungen zu erzeugen. So, und nur so, wird die natürliche Sprache des Menschen zum Medium, in dem alle Bereiche der Erfahrung und des Verhaltens erfasst und repräsentiert werden können. Damit entsteht das, was Searle "Expressibilität" nennt, nämlich Voraussetzung dafür, dass alles, was man meinen, auch sagen kann. Das könnte gemeint sein mit Wittgensteins Diktum "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt".

Da zur Gesamtheit der Dinge, über die sprachliche Äußerungen möglich sind, auch die sprachlichen Ausdrücke selbst gehören, ist jede natürliche Sprache stets auch ihre eigene Metasprache, und so ist mit der Expressibilität zugleich die Bedingung der Reflexion, also die Struktur des Selbstbewusstseins und des Wissens vom In-der-Welt-sein gegeben.

Aus der gleichen Bedingung, die die Sprache vollständig macht, ergibt sich jedoch auch eine Grenze, die die These Wittgensteins relativiert: Die im Symbolcharakter begründete Abstraktheit der Sprache schließt alles von der Repräsentation aus, was sich dieser Art der Abstraktion entzieht. Musik, Mimik, Bilddarstellung sind entscheidende Bereiche der Erfahrung und auch der Kognition, die nicht durch Symbole realisiert werden können, die aber zweifellos zu "meiner Welt" gehören. In dem Maß, in dem nicht-propositionale Momente der Erfahrung und des Verhaltens zur Welt gehören, ist die Sprache demnach nicht deren Grenze.

Allerdings werden die Bereiche jenseits der Sprache entscheidend durch die Bedingungen geprägt und modifiziert, die erst durch die Sprache und die mit ihr verbundenen Institutionen entstehen. In diesem Sinn kann ohne Paradoxie gesagt werden, dass die Sprache zur Bedingung auch für die Artikulation dessen wird, was sie nicht artikulieren kann.