Wie viel Zeit für wie viel Text?
Abstract
Das Interesse an Zeiten und Zeitverhältnissen ist in der älteren Linguistik vor allem von denjenigen grammatischen oder lexikalischen Zeitformen absorbiert worden, die als Tempora, Temporal-Adverbien oder in sonstiger Form einen ausdrücklichen Zeitbezug zur Welt oder zu den kommunikativen Aspekten des anstehenden Sprechaktes herstellen. Es charakterisiert jedoch häufig diese Zeitformen, dass sie außer temporalen Informationen auch viele andere Anweisungen transportieren und beispielsweise den Hörer/Leser darüber unterrichten, ob er den in Frage stehenden Text in gespannter oder in entspannter Rezeptionshaltung aufnehmen soll. In textlinguistischer Betrachtungsweise ist Tempus prinzipiell eine komplexe Kategorie, in der heterogene Aspekte der Grammatik vielfach amalgamiert sind. Nicht alles, was seit der Antike als temporal bezeichnet wird, hat daher tatsachlich mit der Zeit oder den Zeiten zu tun.
Wenn also vom Zeitkonto der Tempora wie auch vieler Temporal-Adverbien manche Bedeutungswerte abzuziehen sind, die dort zu Unrecht als temporal verbucht sind, ist die Sprache in anderer Hinsicht viel stärker zeitgeformt, als in den meisten Grammatiken ausgewiesen wird. So ist auch erst in neuerer Zeit und mit psycholinguistischer Nachhilfe ein Interesse für die reale Verlaufszeit eines mündlich oder schriftlich geäußerten Textes aufgekommen, obwohl solche Zeitspannen verhältnismäßig leicht gemessen und getestet werden können.
Im Mannheimer Vortrag wird darüber hinaus der Textlinguistik empfohlen, ein besonderes Augenmerk auf diejenigen Zeitspannen zu richten, die durch intra- oder extratextuelle Verweisungen konstituiert werden. Dabei handelt es sich, je nach der Verweisungsrichtung, um anaphorische oder kataphorische Zeitspannen, die entweder im Kurzzeitgedächtnis oder in der Kurzzeiterwartung aufgebaut werden. Alle oder fast alle grammatischen Morpheme stellen im Textverlauf solche Zeitspannen her und durchwirken auf diese Weise den Text in der realen Abfolge seiner Sprachzeichen mit einem hochkomplexen Netzwerk von virtuellen Zeitverlaufen, die sich in der Progression des Textes fortlaufend verändern. Die Virtuosität (das "Tempo") in der Produktion oder Rezeption eines gesprochenen oder geschriebenen Textes wird in erheblichem Ausmaß von diesen temporalen Virtualitäten gesteuert. Jeder Text ist daher, außer aus seinen Sprachzeichen (Morphemen und Lexemen), wesentlich aus Zeit gemacht.