Prof. Dr. Wolfgang Schnotz

Was geschieht im Kopf des Lesers? Mentale Konstruktionspresse beim Textverstehen aus der Sicht der Linguistik und der Psychologie

Abstract

Wer einen schriftlichen Text liest und versteht, entnimmt diesem entgegen einer weitverbreiteten Meinung keine Bedeutung. Die Bedeutung eines Texts wird vom Leser konstruiert. Vom Text erhält der Leser hierzu lediglich visuelle Informationen oder taktile Informationen (Brailleschrift) über Formeigenschaften von Symbolen. Den Rest besorgt das Gehirn bzw. der "kognitive Apparat" des Lesers, wobei auf graphemisches, morphologisches, syntaktisches, semantisches, rhetorisches und pragmatisches Vorwissen zurückgegriffen wird.

Texte und Textbedeutungen werden im Kopf des Lesers in unterschiedlichen Formaten repräsentiert. Sie bilden zwar ein zusammenhängendes Ganzes, sind also kohärent, doch lässt sich dieses Ganze in verschiedene hierarchisch geordnete Ebenen untergliedern. Die Zahl der Ebenen ist je nach Tiefe des Verstehens unterschiedlich. Außerdem können diese Ebenen je nach Ziel und Zweck des Textverstehens unterschiedlich akzentuiert sein.

Die beim Textverstehen stattfindenden mentalen Konstruktionsprozesse sind in hohem Maße den Einschränkungen des Arbeitsgedächtnisses unterworfen, müssen also mit begrenzter Aufmerksamkeit bzw. begrenzter Verarbeitungskapazität stattfinden. Dementsprechend finden sich in Texten teilweise sehr subtile Signale zur Steuerung der Aufmerksamkeit, deren Wirksamkeit dem Leser meist nicht bewusst wird, die aber für die Verständlichkeit des Texts wesentlich sind.

Linguistik und Psychologie sowie andere Kognitionswissenschaften haben in den letzten Jahren viele Brücken zwischen ihren Disziplinen errichtet, von denen aus sich neue An- und Aussichten sowohl auf die Strukturen der Sprache als auch auf das Feld der sprachlichen Kommunikation ergeben.