Prof. Dr. Selma Meireles

Leseverstehen aus der Perspektive des Nicht-Muttersprachlers

Abstract

Textverstehen heißt nicht bloß sprachliche Zeichen dekodieren, sondern den Text als sinnvolle, kohärente kommunikative Einheit erfassen und den vom Verfasser gegebenen Hinweisen für den Aufbau der intendierten mentalen Repräsentationen folgen. Da sie durch mentale Konstruktionsprozesse erfasst werden, auf die sprachliches und inhaltliches Vorwissen, Kontexte, Situierungen und Erwartungen Einfluss haben, weisen Texte keine objektive, Alternativen ausschließende Deutung auf. Bei der Rekonstruktion durch den Leser spielen die obengenannten Komponenten eine so entscheidende Rolle, dass Leser mit unterschiedlichen Voraussetzungen einen Text auf ganz verschiedene Weisen rezipieren.

Was schon für das Lesen in der Erstsprache gilt, wird noch deutlicher, wenn Texte aus der Perspektive des Nicht-Muttersprachlers betrachtet werden. Obwohl Leseprozesse als universal gelten, unterscheiden sich die (sprachlichen, kulturellen und affektiven) Voraussetzungen von Fremdsprachenlesern oft stark von denen der Muttersprachler. Das spiegelt sich auf allen Stufen des Leseprozesses wider, von der Wahrnehmung von Buchstabenkombinationen bis zum erhöhten Interesse an geschriebenen Texten seitens der nicht-muttersprachlichen Leser. Anhand eines gegenüber L1/L2 neutralen Lesemodells (Börner/Vogel 1996) werden in dem Vortrag einige Überlegungen zur Rolle von solchen Komponenten wie Wissen (deklarativ und prozedural), Probleme, Ziele, kognitive Pläne und Handlungen im Hinblick auf das Lesen in einer Fremdsprache, sowie Beispiele zur Integration solcher Überlegungen in den Fremdsprachenunterricht vorgestellt.

Literatur:
Börner, Wolfgang & Klaus Vogel (Hrsg.): Texte im Fremdsprachenerwerb. Tübingen: Narr, 1996.