Formen der Sprache - Prozesse des Verstehens: Textverstehen aus grammatischer Sicht
Abstract
Welche Rolle spielen grammatische Eigenschaften einer Äußerung im Textverstehen? Die Antworten auf diese Frage können unterschiedlich ausfallen. In gewissen Konzeptionen zu einer funktionalen Grammatik haben grammatische Formen spezifische Inhaltsfunktionen; Grammatik bestimmt so direkt das Verstehen. Aus einer pragmatischen Sicht, aber auch empirisch ist das Verhältnis zwischen Grammatik und Verstehen weniger einfach. Textverstehen ist ein pragmatikgesteuerter situations- und wissensabhängiger Prozess; Grammatik ist ein abstraktes, situationsunabhängiges Regelsystem. Im Textverstehen sind die bestimmenden Inhaltskategorien pragmatisch vorgegeben, die grammatische Form einer Äußerung ist nur eine von mehreren sehr unterschiedlichen Einflussfaktoren. Die Verwendung und die Interpretation grammatischer Formen im Textverstehen ist so im Wechselspiel mit den pragmatischen Rahmenbedingungen zu verstehen und zu beschreiben. Der Priorität der Inhaltskategorien über die formale Gestaltung von Äußerungen entspricht außerdem, dass es in aller Regel keine eindeutige Zuordnung zwischen einzelnen grammatischen Mitteln und bestimmten Textinhalten gibt. Jedoch gibt es generelle Organisationsprinzipien: Für bestimmte Inhalte gibt es präferierte Ausdrucksmittel. Der Einsatz grammatischer Mittel gehorcht dem Ökonomieprinzip: Zu jedem Inhalt gibt es je nach Kontext weniger explizite - formal sparsamere - und explizitere - formal aufwendigere - Ausdrucksformen. Wenn eine grammatische Kategorie obligatorisch kodiert werden muss, gibt es unmarkierte neben markierten Formen. Für Inhalte, denen keine standardisierte grammatische Ausdrucksform gegenüber steht, gibt es auxiliäre Strategien, u. U. durch Kombinationen von Ausdrucksmitteln usw. Die konkrete Umsetzung derartiger Organisationsprinzipien, die Variationsmöglichkeiten die dabei vorhanden sind, die gegenseitige Abhängigkeit der Verwendung von grammatischen Formen und der Anwendung pragmatikgesteuerter Interpretationsverfahren soll anhand ausgewählter formaler und inhaltlicher Kategorien dargestellt werden; behandelt werden sollen so voraussichtlich namentlich Konstituenz, Konnexion, Satzgliedstellung, Tempus, Referenz, Perspektive, Illokution, Modalität, Kohärenz.