Dr. Matthias Wermke

Deskriptivität und Normativität aus der Sicht des Dudens

Abstract

Hie Deskriptivität, hie Normativität! So hallt es seit langem auf dem Felde der Auseinandersetzung um die deutsche Hochsprache. Während die einen dem Duden in der Vergangenheit regelrechte "Normierungswut" vorwarfen, bezichtigen ihn in jüngerer Zeit andere, durch seine Passivität gegenüber den ständig zunehmenden Veränderungen der Sprache durch nichtssagende Floskeln und unklare Wort- und Begriffskonstruktionen sowie durch Anglizismen … die Verhunzung der deutschen Sprache zu fördern. Kein Teilgebiet unserer Standardsprache ist vom Streit um Deskriptivität oder Normativität so betroffen, wie dasjenige der Orthographie. Schon das deutsche Wort "Rechtschreibung" impliziert einen Gegensatz von 'richtig' und 'falsch' und damit das Vorhandensein normativer Vorgaben, die für das Deutsche seit dem 19. Jahrhundert ja auch tatsächlich in Form amtlicher Regelbücher bestehen. Während das Nebeneinander von Aussprachevarianten, variabler Genus in Fällen wie der/das Modem oder schwankende Flexion bei Titeln und Namen - heißt es: aus der Sicht des Duden oder aus der Sicht des Dudens - die öffentlichen Gemüter kaum erregen, sieht das - neben der jahrhundertealten Fremdwortdebatte -, wenn es um die Verschriftung des Deutschen geht, bekanntlich ganz anders aus. Hinsichtlich der Schreibung müsste die Frage "Wie viel Variation verträgt die deutsche Standardsprache?" allerdings ersetzt werden durch die Frage "Wie viel Variation nutzt den Sprachteilhaberinnen und Sprachteilhabern?". Wer aktiv Sprachberatung leistet, weiß, dass das Angebot von Varianten den allgemeinen Sprachbenutzer eher belastet als es ihm nutzt. Dieser will erfahren, wie er etwas aussprechen, flektieren oder in der Mehrzahl der Fälle schreiben soll, und nicht mit der Entscheidung, wie er es machen kann, alleine gelassen werden. Im sprachlichen Alltag bleibt für die meisten keine Zeit zu einer Auseinandersetzung mit variablen Phänomenen der Standardsprache und schon gar nicht für Experimente. Im Alltag ist Sprache nur Mittel zum Zweck, ein Werkzeug, das wie jedes andere Werkzeug auch nur dann optimalen Nutzen bietet, wenn es nicht ständig selbst hinterfragt werden muss.

Jede wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sprachlichen Phänomenen ist zunächst deskriptiver Natur. Soll Wissenschaft nicht Selbstzweck bleiben, müssen ihre Erkenntnisse in die Welt des Alltags hinausgetragen werden. Dort treffen sie auf Schüler und Lehrer, Deutschlerner, Sekretärinnen, Journalisten und Werbetexter, Setzer und Korrektoren, Mütter und Väter, Chefs und Angestellte, Gebildete und Ungebildete, Kleine und Große. Weil gerade die Standardsprache für sie alle ein wesentliches Element erfolgreichen Handelns ist, dieses Handeln sich aber selbst nicht auf die Sprache bezieht, müssen die Erkenntnisse sprachwissenschaftlicher Forschung für sie in anwendbare Einheiten überführt werden. Im Rahmen dieses Prozesses nimmt ein rein deskriptiver Ansatz fast zwangsläufig normative Züge an. So werden Wörterbücher, die wissenschaftliche Erkenntnisse wohl am unmittelbarsten in den Sprachalltag hineintragen, auch dann, wenn sie sich selbst als rein deskriptiv verstehen, normativ gelesen. Das hängt schon von der zwangsläufig linearen Anordnung der in ihnen zusammengestellten Informationen ab. Anders ausgedrückt: Schreibungen, die im Rechtschreibwörterbuch an erster Stelle stehen, werden vom Benutzer automatisch als höherwertig interpretiert als die nachfolgenden Varianten. Da hilft im Zweifel auch keine ausgeklügelte Variantenführung, wie sie die amtliche Wortliste zum Regelwerk von 1996 aufweist und die im Rahmen einer anstehenden Überarbeitung wohl auch aufgegeben werden wird.

Vom allegmeinen Sprachbenutzer aus betrachtet, besteht kein Anlass, von jedwedem normativen Anspruch abzusehen. Dem Deutschlerner - sei er Muttersprachler oder Nichtmuttersprachler - sind Normen ein Hilfsmittel zum leichteren Erlernen des Deutschen wie sie dem Lehrenden bei dessen Vermittlung helfen; sie dienen denjenigen, die bei ihrem alltäglichen Handeln nicht ständig ihren eigenen Umgang mit der Standardsprache problematisieren können, als Orientierungspunkte; die Berücksichtigung sprachlicher Normen vereinfacht den Verständigungsprozess, wie Normen auch einen Beitrag zur Stabilisierung des Deutschen von innen heraus leisten mögen. Die Fragen, denen nachzugehen lohnt, sind demnach: Wie viel Norm brauchen die Sprachteilhaber? und Wie geht man sinnvoll mit diesen Normen um? Dass Normen dabei nicht für die Ewigkeit fixiert sind, sondern sich mit dem Sprachwandel verändern, bleibt dabei evident.