Prof. Dr. Jürgen Erich Schmidt

Die deutsche Standardsprache: eine Varietät - drei Oralisierungsnormen

Abstract

Die zentrale Frage der Jahrestagung "Wie viel Variation verträgt die deutsche Standardsprache?" wird auf zwei enger gefasste Fragen heruntergebrochen. Die erste lautet: "Wo ist linguistisch die Grenze der Standardsprechsprache anzusetzen?" Die zweite lautet: "Bis zu welchem Grad der Abweichung von der kodifizierten Norm beurteilen naive Hörer regionale Varianten noch als standardsprachlich?"

Die erste Frage wird im Rahmen der Theorie der Sprachdynamik expliziert und beantwortet. Konstitutiv für das interaktiv-kognitive System "Sprache" sind die Dimensionen "Zeitlichkeit" und "Raum" (sprachliches Zeit- und Raumapriori). Jede sprachliche Interaktion vollzieht sich in der Zeit, zeitlich determiniert sind die kognitiven Reflexe der sprachlichen Interaktionen und die interindividuelle Abstimmung des sprachlichen Wissens und der sprachlichen Konventionen. Die jeweilige Verfasstheit einer Einzelsprache und ihrer Standardvarietät ergibt sich aus dem Nebeneinander von areal determinierten Mesosynchronisierungen, in denen Individuen ihr sprachliches Wissen in Situationen personellen Kontaktes abstimmen, und von Makrosynchronisierungen, mit denen sich die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft unabhängig vom personellen Kontakt an einer gemeinsamen Norm ausrichten. Die zunächst großlandschaftlichen Oralisierungsnormen (entstanden um 1700) der einen literalen Standardvarietät unterliegen seit 70 Jahren einem massiven Umwertungsprozess. In dem Maße, in dem die durch die mündlichen Massenmedien verbreiteten neuen nationalen Oralisierungsnormen des Deutschen kommunikative Präsenz erlangten, wurden die alten Prestigesprechlagen als regional begrenzt wahrgenommen und zunehmend in einem landschaftlich sehr differenziert verlaufenden Prozess abgewertet. In dem heutigen Kontinuum der verschiedenen an der literalen Norm ausgerichteten Sprechlagen kann unter Rückgriff auf den kognitiv fundierten Begriff der Vollvarietät eine klare Abgrenzung von standardsprachlichen und nichtstandardsprachlichen Sprechlagen vorgenommen werden.

Zur Beantwortung der zweiten Frage wird über rezente empirische Studien berichtet, deren Datenbasis standardsprachlich intendierte Äußerungen ungeschulter Sprecher in authentischen Sprechsituationen sind. Die in den entsprechenden Sprachaufnahmen beobachteten Regionalismen wurden dabei 1. empirisch-linguistisch analysiert und 2. in Beurteilungstests durch naive Hörer auf ihre Übereinstimmung mit der Standardsprache hin bewertet. Das überraschende Resutat: Die Hörerbeurteilungen in verschiedenen Regionen des Deutschen stimmen sehr weitgehend mit der theoretisch hergeleiteten Abgrenzung überein.

Zum Abschluss des Vortrages wird dann eine Bestimmung der Standardsprache und ihrer Oralisierungsnormen vorgenommen werden, die einerseits der konstitutiven Zeitlichkeit und Räumlichkeit einer jeden Sprache gerecht wird und dennoch eine klare Unterscheidung der Standardvarietät von regionalsprachlichen Sprechlagen erlaubt.