Prof. Dr. Thorsten Roelcke

Gefährden Wissenschaft, Technik und Institutionen unsere Sprache? Überlegungen zur fachlichen Pluralität des Standards

Abstract

Der Standard ist tot - es lebe der Standard! In der öffentlichen Diskussion mehren sich zurzeit die Klagen über den Verlust von Sprachkultur und der Bildungssprache durch den Einfluss von Wissenschaft, Technik und Institutionen. Dabei wird nur allzu gerne vergessen, dass es neben dem literatur- bzw. dichtungssprachlichen Bereich auch und gerade der fachsprachliche Bereich ist, dem wir seit dem 18. Jahrhundert (und früher) entscheidende Impulse für die Herausbildung der deutschen Standardsprache und deren Wortschatz verdanken. Nach Zeiten relativer Stabilität, so es diese denn tatsächlich gegeben hat, wächst derzeit ganz augenscheinlich der Einfluss der Fachsprachen auf die Standardsprache erneut und leistet dabei wiederum einen wichtigen Beitrag dazu, dass diese auch weiterhin den kommunikativen Anforderungen unserer Gesellschaft gerecht zu werden vermag. Was hierbei mit Sicherheit verloren geht, ist der alte, monozentrische Sprachstandard, der einem überkommenen "humanistischen" Bildungsideal verpflichtet ist. An dessen Stelle rückt jedoch (Wort für Wort) ein neuer, plurizentrischer Standard, welcher der kommunikativen Allgemeinheit die unterschiedlichsten Wissens- und Tätigkeitsbereiche zugänglich macht. Die fachlexikalische Dezentralisierung der deutschen Standardsprache in der Gegenwart spiegelt dabei eine gesellschaftliche Entwicklung wider, die weder verhindert werden kann noch verhindert werden soll, auch wenn sie von dem tradierten Bildungsideal abrückt - nämlich die zunehmende Spezialisierung und Differenzierung unseres Alltags.

Ob man dieser fachlexikalischen Dezentralisierung nun "positiv", "negativ" oder gar "relativ" gegenübersteht, der plurizentrische Sprachstandard stellt indessen in jedem Falle eine große Herausforderung für die Kommunikation im Alltag dar, auf welche die Mehrheit innerhalb unserer Gesellschaft nicht hinreichend vorbereitet ist (was auch die weit verbreitete Furcht vor und den oft nicht minder tief verankerten Hass auf die vermehrte Standardvariation erklärt). Um dieser kommunikativen Herausforderung in Zukunft eher gewachsen zu sein, bedarf es nun weniger einer puristischen Sprachkritik als vielmehr einer fundierten Sprachdidaktik - einer Sprachdidaktik, wie sie in den Bildungsstandards unserer Schulen und in den Studienordnungen unserer Universitäten bislang kaum Platz gefunden hat...