HDoz. Dr. Stephan Elspaß

Standardisierung des Deutschen: Ansichten aus der neueren Sprachgeschichte

Abstract

Im Vortrag werden wichtige Entwicklungslinien in der Standardisierung des Deutschen seit der Frühen Neuzeit nachzuzeichnen versucht sowie verschiedene Phasen- bzw. Stufenmodelle für die neuere Sprachgeschichte diskutiert. Für die Leitfrage der diesjährigen Tagung ("Wie viel Variation verträgt die Standardsprache?") sind die Entwicklungen in den letzten 200 bis 250 Jahren von besonderem Interesse, da sie nicht nur unser Bild vom "Standarddeutschen" geprägt haben, sondern auch einen unmittelbaren Einfluss auf das heutige Deutsch zeigen. Allerdings sind die "sprachgeschichtlichen Wurzeln des heutigen Deutsch" (IDS-Jahrbuch 1990) gerade mit Blick auf die Grammatik bisher kaum freigelegt - trotz des verstärkten Forschungsinteresses an der jüngeren Sprachgeschichte.

Gestützt auf die "neue" deutsche Sprachgeschichtsforschung und auf eigene Forschungsergebnisse wird folgende Position vertreten: Bis zum Beginn des 20. Jhs. kann man billigerweise nicht von einer deutschen Standardsprache reden - es sei denn, man wolle darunter die in den Schulgrammatiken des 19. Jhs. kodifizierte Schriftsprache verstehen, die allenfalls vom gebildeten Teil des Bürgertums beherrscht wurde. Die bisherigen Darstellungen der Handbücher haben zu sehr auf die schriftsprachliche Produktion einer kleinen, dominanten, aber nicht repräsentativen Minderheit der Sprachgemeinschaft abgehoben und das gedruckte Wort übermäßig in den Vordergrund gestellt. Dieser Teil der elitär-hochkulturellen Schriftlichkeit zeigt freilich am ehesten die erwartete Einheitlichkeit. Eine Beschränkung auf diesen Bereich stellt somit eine Verengung der Begriffe von Standard und Schriftkultur dar, die letztlich einer teleologischen Sicht auf das Ende des "Weges", nämlich das "Erreichen" des Standards, verhaftet geblieben ist. Diese verengten Begriffe entsprechen allerdings nicht mehr zeitgemäßen Auffassungen von Standardisierung, wie sie etwa außerhalb des deutschen Forschungsdiskurses bestehen.

Will man von einer Standardsprache seit dem 19. Jh. sprechen - und diese ist ja Gegenstand der meisten Gegenwartsgrammatiken des Deutschen (z. B. der IDS-Grammatik) -, so muss der Begriff des Standards in Richtung Standardvariation ausgeweitet werden. Es sind insbesondere jene regionalen und sozialen Gebrauchsnormen in den Blick zu nehmen, die die Schriftlichkeit der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit kennzeichnen und die zu einem großen Teil bis in die heutigen standardnahen Umgangssprachen (bzw. regionalen Standards) gültig sind. Nicht zuletzt und nur dann lassen sich Varianten und Zweifelsfälle der gegenwärtigen deutschen Standardsprache bruchlos in die Entwicklungstendenzen der neueren Geschichte der deutschen Sprache einfügen, wenn man nicht auf der Ansicht "von oben" beharrt, sondern gerade für die jüngere Sprachgeschichte eine Perspektive "von unten" wählt.