Prof. Dr. Ludwig M. Eichinger

Standardnorm, Sprachkultur, Sprachpolitik

Abstract

1. Warum einer Norm zu folgen ein kompliziertes Geschäft ist.

In diesem abschließenden Vortrag der Jahrestagung zu dem Thema, wie viel Variation der Standard vertrage, soll nochmals dargelegt werden, dass diese Frage für das Deutsche zu Beginn des 21. Jahrhunderts aktuell ist.

Als erstes Argument dafür können sprachliche Befunde dafür herangezogen werden, dass das Gesamtbild des gegenwärtigen Deutsch seit einiger Zeit von der Durchsetzung einer großräumigen und standardorientierten Basis gekennzeichnet ist. In diesem Kontext nehmen gesprochene Formen der Standardsprache und standardnaher Substandards einen stärkeren Charakter von Oralität an. Standardsprachliche Ausdrucksweisen bekommen einen alltagssprachlichen Platz.

Als zweites Argument können kultursoziologische Befunde herangezogen werden, die erklären, warum es gleichzeitig wesentlich komplizierter geworden ist, die normative Geltung bestimmter sprachlicher Verhaltensweisen genau einzuschätzen bzw. auch gesamtgesellschaftlich durchzusetzen. Konkurrierende Ansprüche auf die Geltung von Verhaltensnormen in der Öffentlichkeit, die dem Einzelnen im Alltag erhöhte "Differenztoleranz" abverlangt, macht auch das Leben normsetzender und normorientierter Instanzen nicht leichter.

2. Das Gute und das Angemessene

Man kann auf diese beiden Punkte konzeptuell verschieden reagieren:

Man kann die verschiedenartige sprachliche Adaptation an die sprachliche Standardwelt und die veränderten Ansprüche auf normative Geltung als Verlust des eigentlichen normativ gesetzten Standards begreifen. Bei einer solche Interpretation des Normbegriffs spricht viel dafür, in den beiden genannten Punkten eine grundsätzliche Abweichung von der als gut gesetzten Idealnorm zu sehen und die zu beobachtende Entwicklung als Verfall zu deuten.

Man kann daraus aber auch schließen, dass die Einübung in ein mehr und mehr standardsprachlich beeinflusstes Sprachverhalten eine normative Übereinkunft verlangt, bei der die Angemessenheit eines alltagssprachlich akzentuierten Standards im halböffentlichen und öffentlichen Leben das zentrale Kriterium darstellt.

3. Die Gewinnung und die Sicherung des Standards

Wenn man die Geschichte der standardsprachlichen Entwicklung des Deutschen in den letzten beiden Jahrhunderten unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, kann man sehen, dass die Entwicklungen der letzten Zeit in historisch-gesellschaftlich spezifischer Weise die anstehende Reduktion komplexer Anforderungen leisten. Dabei stellen die gewählten sprachlichen und kommunikativen Strategien eine gut erklärbare Fortentwicklung der historischen Prozesse dar.

4. Normen ja - aber wessen?

Man kann bestimmte Trends in der linguistischen Beschäftigung mit dem Deutschen mit den angedeuteten Verschiebungen in Verbindung bringen. Das soll anhand der korpuslinguistischen Ansätze, deren Ergebnisse jedenfalls eine neue Basis für Plausibilitätsurteile liefern können, und anhand der Beschäftigung mit den Besonderheiten der gesprochenen Sprache diskutiert werden.

Zum Abschluss soll angedeutet werden, welche Folgen diese Überlegungen für die Festschreibung standardsprachlicher Normen haben.