Jugendsprachen - Szenesprachen: Soziolinguistische Stile als Erneuerungsquellen des Standards
Abstract
Der Beitrag versucht, die mit dem Eingang nicht-standardsprachlicher Lexik in die Standardsprache verbundenen Fragestellungen und Probleme aufzuzeigen. Jugend- und Szenensprachen sind musterhafte Quellen für den lexikalischen Wandel der Standardsprache "von unten", dessen letzte Etappe die Eintragung in ein gesamtsprachiges Wörterbuch ist. Eine Modellierung des Verbreitungsprozesses jugendsprachlich induzierter Innovationen ist bislang ebenso wenig erreicht wie die Lokalisierung "verbreitungsfreudiger" lexikalischer oder diskurspragmatischer Muster. Ungeklärt ist weiterhin, welche Rolle Massenmedien im lexikalischen Wandel von unten spielen.
Die hier vorgelegte Skizze verbindet die "Mikroperspektive" der soziolinguistischen Akkomodations- und Netzwerktheorie mit der "Makroperspektive" der Massenmedien als Indikatoren maximaler gesellschaftlicher Reichweite lexikalischer Innovationen. Ihre Selektion ist nicht nur vom Prestige der Jugendlichkeit oder der Attraktivität einzelner Szenen abhängig, sondern folgt bestimmten semantisch-funktionalen Richtlinien. Vor allem Bewertungen, Kategorisierungen, Gruß- und Abschiedswörter finden immer wieder Eingang in den kolloquialen Standard, teilweise mit Distributions- oder semantischen Einschränkungen gegenüber ihrer jugendsprachlichen Verwendung. In anderen Fällen geht die Verbreitung mit einem Grammatikalisierungsprozess einher. Das Expressivitätspotenzial, die Zugehörigkeit zu erneuerungsfreudigen Teilbereichen des Lexikons sowie das mit Anglizismen verbundene Prestige erhöhen offensichtlich die Verbreitungschance jugendsprachlicher Innovationen.
Der Übergang einer lexikalischen Einheit von Kleingruppen in die Standardsprache (bzw. vom Slang in das neutrale Vokabular) wird in der Literatur als ein mehrstufiger Prozess modelliert. Die Frage stellt sich, wie soziolinguistische Sprachwandelmodelle mit einem solchen Stufenmodell zu verbinden sind. Beispielsweise kann sprachliche Akkomodation von Erwachsenen an Jugendliche in verschiedenen Typen des intergenerationellen Dialogs stattfinden, und es ist zu vermuten, dass mit Jugendlichen in ständigem Kontakt stehende Erwachsene die Übernahme von Jugendvokabeln in Netzwerke Erwachsener fördern. Erwachsene können jedoch auch auf (massenmediale) Stereotype jugendlichen Sprechens zurückgreifen. Außerdem tragen junge Erwachsene durch Kontinuität in ihrer eigenen Sprachbiografie zur Erneuerung des standardsprachlichen Repertoires in bestimmten lexikalischen Kategorien bei.
Ob der massenmediale Gebrauch jugendsprachlicher Innovationen direkt von Erwachsenen imitiert wird, gilt als umstritten, obwohl verschiedene, mitunter anekdotische Fallbeispiele darauf hinweisen, dass das soziolinguistische Prinzip, wonach Massenmedien keinen Einfluss auf Sprachwandel haben, zumindest für den lexikalischen Bereich und insbesondere für Modewörter zu relativieren ist. Doch scheint auf jeden Fall die Annahme legitim, dass der massenmediale Gebrauch von (ehemals) soziolektal markierten Ausdrücken einen fortgeschrittenen Verbreitungs- bzw. Akzeptanzgrad derselben indiziert. Allerdings führt der massenmediale Gebrauch allein nicht zwingend zu einem Eingang in die Standardsprache; es kommt vielmehr auf die Pragmatik des Wortgebrauchs an, die mit Bakhtins Konzepte der Dialogizität und Polyphonie erfasst werden kann. Entscheidend ist, ob Modelltexte, Journalistinnen und Journalisten diese Varianten als "fremde" oder aber auch als "eigene Stimme" einsetzen, ihnen das Potenzial einer Semiose über die ursprünglichen Nutzergruppen hinaus zubilligen. Dass es sich hierbei um einen langjährigen diskursiven Aushandlungsprozess handelt, lässt sich empirisch nachweisen. Die Auswertung ausgesuchter lexikalischer Einheiten und Kollokationen im COSMAS-Korpus geschriebener Sprache zeigt:
- Die Auffassung, dass sprachliche Innovationen erst lange nach ihrer Etablierung in der Allgemeinsprache in den Massenmedien erscheinen (Labov), ist zumindest für die Lexik nicht haltbar. Massenmedien machen bestimmte Innovationen einem Massenpublikum erst zugänglich, indem sie sie erklären und als soziolinguistische Stereotype kommentieren.
- Die zunehmende Erscheinungshäufigkeit einer jugendsprachlichen Variante im öffentlichen Sprachgebrauch, die sich im COSMAS-Zeitungskorpus mehrfach nachweisen lässt, ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für den Aufstieg der Variante in die Standardsprache. Jugendsprachliche Varianten werden in den Massenmedien oft nur als fremde Stimmen inkorporiert, sie erlangen dabei zwar maximale gesellschaftliche Reichweite, bleiben vom dominanten Code jedoch getrennt. Dieses Gebrauchsmuster dauert für bestimmte Wörter länger an als für andere, selbst innerhalb derselben lexikalischen Kategorie, so dass mit lexemspezifischen "Aufwertungskarrieren" zu rechnen ist.
- Die weitere "Karriere" der in die Standardsprache avancierenden Wörter ist durch Abbau von Distanzmarkierungen, Erweiterung bzw. Wechsel des thematischen Bezugsrahmens, Perspektivenwechsel und metaphorische Übertragung auf gesamtgesellschaftlich relevante Zusammenhänge gekennzeichnet.
Die Standardannäherung einer Variante lässt sich korpusanalytisch durch mikrodiachronische Schwankungen im massenmedialen Gebrauch nachweisen. Dieser manchmal durch eine Veränderung der diasystematischen Markierung in der lexikografischen Praxis ratifizierte Prozess ist heute für manche Innovationen der 1960-er und 1970-er Jahre nahezu abgeschlossen (Beispiel ausflippen), für Innovationen der 1990-er noch in vollem Gange (Beispiel chillen). Die Beschreibung solcher Verschiebungen im öffentlichen Sprachgebrauch bietet Einsichten in einen Prozess, der innerhalb einer Generation soziolektal markierte Einheiten zum allgemeinsprachigen Wortschatz verwandelt.