"Andere Zeiten, andere Lehren" - Sprach- und kulturgeschichtliche Betrachtungen zum Sprichwort
Abstract
Die reichhaltige Literatur über Alter, Herkunft, Überlieferung, Sprache, Kontext, Funktion und Bedeutung der Sprichwörter lässt erkennen, dass sich Wissenschaftler von fast allen Sachgebieten mit diesem überlieferten Weisheitsgut in vorgeprägter Sprache beschäftigt haben. Dies gilt besonders für Philologen, Volkskundler, Linguisten, Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker, deren Forschungsergebnisse in zahlreichen Sammlungen, Bibliografien, Büchern und Aufsätzen vorliegen. Dabei ist zu betonen, dass sich die regionale, nationale und internationale Sprichwörterforschung in zwei eng zusammenhängende Teilgebiete einteilen lässt, nämlich die Parömiographie (Sammlungen) und die Parömiologie (Forschung).
Wie für andere Sprachen liegen für das Deutsche beachtliche Schriften über die Entwicklung der sprichwörtlichen Sprache von der Antike über die Bibel zum Mittelalter und über Jahrhunderte der Kulturgeschichte hinweg bis zur Neuzeit vor. Es gibt Sprichwörter, die gewiss schon vor der schriftlichen Überlieferung geläufig waren und es bis heute geblieben sind. Hier handelt es sich um ganz allgemeine menschliche Beobachtungen und Erfahrungen, die einen universellen Wert haben. Es gibt aber auch Sprichwörter, deren Weisheitsanspruch und Sprache (veraltete Wörter und Metapher) nicht mehr in die neue Zeit passen. Während solche Texte schließlich aus dem Sprachgebrauch ausscheiden, kommen neue Sprichwörter mit modernen Sprachausdrücken, Metaphern und Bedeutungsinhalten hinzu, wobei es sich heutzutage zum Teil um Lehnübersetzungen aus dem Angloamerikanischen handelt. All dies soll an Hand einer Gruppe von Sprichwörtern gezeigt werden, die sich unter dem Themenbereich "Freiheit" gruppieren lassen. Es geht um Sprichwörter, die sich bis auf die Antike ("Die Gedanken sind frei"), die Bibel ("Der Mensch denkt, Gott lenkt") und das europäische Mittelalter ("Als Adam grub und Eva spann, wer war da ein Edelmann?") zurückführen lassen. Aus späteren Jahrhunderten kommen andere Sprichwörter hinzu, wie etwa "Lieber tot als Sklave", "Selbst ist der Mann", "Wer die Wahl hat, hat die Qual" und "Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg". An diesen Texten und ihren modernen Umformulierungen zeigen sich neue Freiheitsbegriffe, die vor allem den Anspruch auf gewisse Freiheiten des Individuums erkennen lassen.
Der sprach- und kulturgeschichtliche Überblick, zu dem auch der furchtbare Missbrauch des Sprichworts "Arbeit macht frei" gehört, schließt mit einer Diskussion über das moderne amerikanische Sprichwort "Different strokes for different folks" mit seiner Gefahr der Relativierung des Freiheitsbegriffs und dessen Verhältnis zu deutschen Sprichwörtern.