Idiome aus kognitiver Sicht
Abstract
1. In diesem Beitrag werden die Grundzüge einer kognitiven Theorie der Idiomatik und ihre wichtigsten Module vorgestellt. Zunächst wird auf die Geschichte der kognitiv orientierten Idiomforschung eingegangen. Dabei handelt es sich um zwei grundsätzlich unterschiedliche Forschungsrichtungen, die bedingt als kognitivpsychologisch und kognitivlinguistisch bezeichnet werden können.
Die erstgenannte Richtung ist ausschließlich empirisch begründet. Mit Hilfe psychologischer Experimente wird das Ziel verfolgt, bestimmte Hypothesen über den Ablauf der kognitiven Verarbeitung der figurativen Sprache (insbesondere der Idiome) im "real time-modus" oder über die psychologische Beschaffenheit der zugrunde liegenden mentalen Bilder zu verifizieren.
Die zweite, stärker linguistisch orientierte Richtung wendet linguistische Methoden im eigentlichen Sinne an (semantische und textbezogene Idiom-Analyse, vor allem - oft corpusbasierte - Untersuchung relevanter Gebrauchsrestriktionen) und verfolgt das Ziel, mittels kognitivlinguistischer Heuristiken die sprachlichen Besonderheiten der Idiomatik besser zu verstehen und zu beschreiben.
Dabei handelt es sich vor allem um semantische Spezifika der Idiome, aber auch um ihr syntaktisches Verhalten und ihre pragmatischen Besonderheiten. Diese letztgenannte Forschungsrichtung steht im Zentrum unseres Interesses.
Die aktuellen Aufgaben der kognitiv orientierten Idiomforschung können wie folgt formuliert werden:
- Klärung der Funktion des zugrunde liegenden mentalen Bildes für die Gebrauchsbedingungen des betreffenden Idioms;
- Klärung der kognitiven Basis der Motivationsphänomene;
- Untersuchung bestimmter semantischer Kategorien (darunter vor allem Quasisynonymie und reguläre Polysemie) vor dem Hintergrund kognitiver Heuristiken;
- Erarbeitung einer Metasprache, die es ermöglichen würde, die linguistisch relevanten Wissensstrukturen zu erfassen;
- Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der Spezifik des syntaktischen Verhaltens der Idiome und ihrer kognitivsemantischen Besonderheiten;
- Überprüfung der Postulate der Kognitiven Metapherntheorie am Material der Idiome;
- Untersuchung kulturspezifischer Phänomene im Bereich der Idiomsemantik in ihrer Beziehung zu allgemeinen kognitiven Mechanismen, die bei Entstehung und Interpretation motivierter Idiome relevant sind.
2. Die Hinwendung zu kognitiven Heuristiken bei der Untersuchung der Idiomsemantik erweist sich in vielerlei Hinsicht als effektiv. Der prinzipielle Unterschied des kognitiven Herangehens gegenüber den traditionellen Auffassungen besteht darin, dass die Metaphorisierung (diese Prozedur liegt bekanntlich der Idiombildung in den meisten Fällen zugrunde) primär als ein konzeptuelles und nicht als ein rein sprachliches Phänomen verstanden wird. Die Metapher stellt aus kognitiver Sicht das Resultat der Interaktion verschiedener Wissensstrukturen dar. Die Metapher kommt im Ergebnis des Mappings des Quellenbereichs (source domain) und des Zielbereichs (target domain) zustande. Das im Zielbereich fixierte Wissen wird entsprechend der Struktur des Quellenbereichs (re)strukturiert. Dies bezieht sich nicht nur auf innovative ad hoc-Metaphern, sondern auch auf konventionalisierte Metaphern, wie sie in den Idiomen begegnen.
Aus diesen Postulaten ergeben sich für die Untersuchung der Idiomsemantik folgende Heuristiken:
- Das Zielkonzept, das der aktuellen Bedeutung des Idioms zugrunde liegt, wird parallel zum Quellenkonzept, das sich in der wörtlichen Lesart sprachlich manifestiert, strukturiert.
- Die wörtliche Lesart des Idioms (soweit vorhanden bzw. konstruierbar) ist nicht ausschließlich ein rein etymologisches Phänomen, sondern beeinflusst die Beschaffenheit der aktuellen Bedeutung. In diesem Sinn kann man von der bildlichen Komponente im Inhaltsplan motivierter Idiome sprechen.
- Idiome, deren Kernbedeutungen vollkommen übereinstimmen (ins Gras beißen, den Löffel abgeben u.ä.) und die traditionell als absolute Synonyme beschrieben wurden, sind nicht völlig synonym, weil sich ihre bildlichen Komponenten unterscheiden.
Aus dieser Sicht besteht eine der Hauptaufgaben der Theorie der Phraseologie darin, eine Metasprache zu entwickeln, die die betreffenden semantischen Elemente explizieren könnte.
Ein weiterer Anwendungsbereich der kognitiven Metapherntheorie ist die Entwicklung von Idiom-Thesauri, die aus kognitiver Perspektive nicht nur als lexikografische Produkte, sondern als Modelle der Idiomatik der betreffenden Sprache mit dem entsprechenden theoretischen Status betrachtet werden. Ein auf der Basis der kognitiven Prämissen entwickelter Idiom-Thesaurus gibt Auskunft über den Bestand der Zielbereiche, die durch Idiome versprachlicht werden, sowie über den Bestand der entsprechenden Quellenbereiche. Aus dem Vergleich solcher Modelle in verschiedenen Sprachen können relevante und möglicherweise (quasi-)universelle Regularitäten des phraseologischen Systems abgeleitet werden. Die kognitive Metapherntheorie umfasst jedoch auch Postulate, die durch aktuelle Ergebnisse der Phraseologieforschung eher widerlegt werden. Dazu gehört vor allem die These des grundsätzlich biologisch bedingten Charakters der Metapher, ihrer sog. "Körperbasiertheit". Wie systematische Analysen des Idiom-Inventars einer Sprache ergeben, kann nur ein kleiner Teil der Idiome (in ihrer konzeptuellen Grundlage) auf Modelle wie Orientierungsmetapher, Behältermetapher, ontologische Metapher u.ä. zurückgeführt werden. Der überwiegende Teil der Idiome (einer jeden Sprache) beruht vielmehr auf kulturspezifischen Phänomenen. Fraglich ist auch die postulierte Aufhebung der Grenze zwischen konventionalisierten Metaphern (dazu gehören per definitionem alle Idiome) und ad hoc gebildeten Metaphern. Während den letztgenannten tatsächlich eine das Weltmodell beeinflussende Rolle (wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad) zugeschrieben werden kann, reflektieren die erstgenannten eher eine historisch interpretierbare konzeptuelle Realität.
3. Im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen der Spezifik des syntaktischen Verhaltens der Idiome und ihrer kognitivsemantischen Besonderheiten besteht die Aufgabe der kognitiv orientierten Idiomforschung darin, relevante Bedingungen für die Implementierung syntaktischer Modifikationen der Idiomstruktur aufzudecken und somit Grundlagen für eine Grammatik der Idiome zu schaffen. Bekanntlich weisen die Idiome transformationelle Defekte auf. Viele Idiome entziehen sich regulären syntaktischen Transformationen wie Passivierung, Adjektiv-Einschub, Topikalisierung, anaphorischer Pronominalisierung einzelner Konstituenten u.ä. Die Durchführung dieser Transformationen macht die Sätze mit Idiomen (im Unterschied zu Sätzen, die keine Idiome enthalten) entweder grundsätzlich inakzeptabel oder lässt nur die wörtliche Lesart zu. Manche Idiome gestatten aber die genannten Transformationen durchaus, ohne dabei die figurative Lesart zu gefährden (vgl. (1) vs. (2)).
(1) *Der Löffel wurde von Hans abgegeben; *Hans hat den großen Löffel abgegeben; *Das war vielleicht ein Löffel, den Hans abgegeben hat.
(2) Der Bock wurde von Hans geschossen; Hans hat einen großen Bock geschossen; Das war vielleicht ein Bock, den Hans geschossen hat.
Es stellt sich die Frage, ob die Akzeptabilität dieser Idiomtransformationen bestimmten Regeln unterliegt oder allein dem Usus zuzuschreiben ist. Den strukturalistischen und generativistischen Prämissen zufolge ist die Usus-Basiertheit durchaus annehmbar, da Idiome als nichtkompositionelle Wortverbindungen Lexikoneinheiten mit irregulären transformationellen Eigenschaften darstellen und aus dem Wirkungsbereich produktiver syntaktischer Regeln grundsätzlich auszuschließen sind. Aus kognitiver Sicht richtet sich das syntaktische Verhalten der Idiome jedoch nicht (oder nicht ausschließlich) nach dem Usus, sondern hat tieferliegende semantische Ursachen. Die Ermittlung dieser Ursachen würde es ermöglichen, bestimmte Regularitäten im Bereich der Idiomsyntax aufzudecken. Dabei handelt es sich vermutlich nicht um Regeln im strengen Sinne, sondern eher um approximative Korrelationen. Aber auch in diesem gemäßigten Sinne stellt die Ermittlung von Regeln einen theoretischen Gewinn dar. Erstens wird damit ein konzeptioneller Rahmen für eine explizite Beschreibung der Idiome in allen Aspekten ihres Funktionierens geschaffen. So können die positivistischen Beobachtungen abgelöst werden von einer systematischen Erfassung aufeinander bezogener und voneinander abhängiger semantischer und syntaktischer Merkmale, die eine gewisse prädiktive Kraft besitzen. Zweitens würde die Frage geklärt, inwieweit es sich um idiosynkratische bzw. regelgeleitete Erscheinungen handelt, folglich die Stellung der Idiomatik im Modell der Sprache präzisiert.
4. Zusammenfassend sei festgehalten, dass es bis jetzt keine ausgearbeitete, in sich geschlossene kognitive Theorie der Phraseologie gibt. Es finden sich zwar einzelne Analysen, die sich in unterschiedlichem Maße kognitiver Heuristiken bedienen. Die Erarbeitung einer kognitiven Theorie bleibt jedoch weiterhin eine aktuelle Aufgabe der Phraseologieforschung.