Prof. Dr. Harald Burger (Zürich)

Phraseologie - Kräuter und Rüben? Traditionen und Perspektiven der Forschung

Abstract

Den Nagel auf den Kopf treffen und einen Nagel einschlagen - beide Wortverbindungen sind Gegenstand ein und desselben sprachwissenschaftlichen Gebietes, der "Phraseologie", und man nennt sie "Phraseologismen". Damit angezeigt sind zwei hauptsächliche Fragestellungen, die die Phraseologieforschung seit ihren Anfängen bei Charles Bally bestimmt haben: einerseits diejenige nach der "Auffälligkeit" solcher Wortverbindungen, die alltagssprachlich als "Redensarten" und "Sprichwörter" bezeichnet werden, andererseits diejenige nach den scheinbar selbstverständlichen Verbindungen von Wörtern, die gerade nicht auf den ersten Blick ins Auge fallen. Während der erste Gesichtspunkt bereits bei einer innersprachlich-muttersprachlichen Betrachtung zur Geltung kommt, wird die Relevanz des zweiten erst sichtbar in sprachvergleichender Sicht, also vor allem im Bereich des Fremdsprachunterrichts. Bei Menschen, die an Sprache interessiert sind, auch ohne sich fachlich damit zu befassen, finden Redensarten und Sprichwörter große Beachtung. Das beweist schon die Vielzahl an populären Sammlungen, und das zeigt sich auch in der Sprachpraxis, zum Beispiel in der Sprache der Medien. Dass aber auch die Ausdrücke des zweiten Typs ihre Reize und Tücken haben, das muss aus fachlicher Sicht erst bewusst gemacht werden. Zunächst möchte ich zeigen, inwiefern die beiden Bereiche zusammengehören und dass sich Phraseologie nicht mit Kraut und Rüben befasst.

Sodann werde ich einige Forschungslinien skizzieren. Nach einer Phase des Ringens um Grundbegriffe, um Terminologie und Klassifikation hat sich die germanistische Phraseologieforschung schon bald aufschlussreicheren Fragenbereichen zugewendet, von denen ich drei herausgreife, die sich in unterschiedlichen Stadien der Bearbeitung befinden:

  • Untersucht wurde auf breiter Basis, wie und in welchen Funktionen Phraseologismen in Texten und Situationen vorkommen. Damit verknüpft war die stärker sprachhistorisch und sprachsoziologisch gewichtete Frage nach der Rolle der Phraseologie im heutigen Deutsch (und in älteren Epochen des Deutschen).
  • Im semantischen Bereich wurde die Phraseologieforschung herausgefordert durch die kognitive Metapherntheorie. Wo diese Theorie neue Wege weist, aber auch wo ihre Grenzen in Bezug auf eine Analyse der Phraseologismen liegen, das zeichnet sich heute recht deutlich ab.
  • Eine seit den Anfängen umstrittene und bis heute nicht befriedigend behandelte Frage ist das Verhältnis von Phraseologie und Grammatik. Sind phraseologische Phänomene, insbesondere solche vom Typ den Nagel auf den Kopf treffen, in eine Grammatik integrierbar oder sind sie Versteinerungen, die sich grammatischer Modellierung widersetzen? Hier ist nach wie vor Grundlagenarbeit zu leisten.

Weitere Schwerpunkte der phraseologischen Forschung können nur kurz angesprochen werden (z.B. sprachvergleichende Studien, die in jüngster Zeit verstärkt unter dem Aspekt des Kulturvergleichs stehen, oder Arbeiten, die Hinweise für die Praxis liefern, etwa zur ein- und zweisprachigen Lexikographie oder zur Sprachdidaktik).

Gegenwärtig ist die empirische Basis der Forschung ein zentrales Diskussionsthema. Darf man von der Korpuslinguistik über die Verbreiterung der Datenbasis hinaus auch qualitativ neue Resultate erwarten?

Was die Kräuter und die Rüben sind, sollte am Schluss des Vortrags klar geworden sein.