Dr. Christoph Sauer (Groningen)

Vom Großen im Kleinen. Über kulturelle Ressourcen juristischer Interaktionen und Darstellungen

Abstract

Wenn sprachliche Handlungen im Gerichtssaal realisiert werden - als Wechselrede zwischen Vernehmenden und Vernommenen oder als längerer mündlicher Beitrag (wie beim Auftritt von Sachverständigen) -, dann kommt es zu vielerlei Bemühungen, die Übersicht zu behalten bzw. die drohende oder ansteigende Unübersichtlichkeit zu bändigen. Es funktioniert eben nicht so, wie es die Strafprozessordnung vorsieht. Sondern lebensgeschichtlich-individuelle, justiziell-professionelle und anderweitig ,importierte' Dimensionen des sprachlichen Handelns überlagern einander und bilden einen komplexen Ereigniszusammenhang. Ein kommunikatives Knäuel gewissermaßen, in dem sich die verschiedenen Erzählungen und Erzählversuche kreuzen. Am Ende freilich sollte etwas Eindeutiges stehen: ein Urteil, ein Freispruch u.ä. Wie aber ist dieses Eindeutige (das ja ebenfalls eine Reihe von sprachlichen Äußerungen darstellt, Urteilsverkündung genannt) ins Verhältnis zu setzen zu dem, was in der Verhandlung vorausging? Offensichtlich bildet ein Urteil nicht die Kommunikation im Gerichtssaal ab. (Das tut noch nicht einmal das Protokoll). Auch am Grad der Enttäuschung, der Genugtuung, des Triumphes oder der Ernüchterung, die das Urteil auszulösen vermag, findet sich wenig, das auf die vorangegangenen kommunikativen Szenen weist. Der Ereignischarakter der Kommunikation, ihre Höhe- und Tiefpunkte, der Kladderadatsch, die Dramatik - kurz: die gelungenen und die misslungenen kommunikativen Bemühungen und die Mittel, die zu ihrer Realisierung eingesetzt worden waren, werden der individuellen Erinnerung der Verfahrensbeteiligten und der Gerichtsbeobachter überlassen.

Aus einer solchen Perspektive der linguistischen Verfahrensbeobachtung mit Tonbandaufnahme und anschließender Transkription soll der Versuch unternommen werden, die sprachlichen Verhaltensformen vor dem Einzelrichter am Amtsgericht genauer zu sichten. Besonderes Augenmerk soll dabei auf die Erwartung eines "Mosaiks" gerichtet werden, als welches sich die Gerichtssaalkommunikation darstellt - hier folge ich Kracauers Auseinandersetzung mit der Neuen Sachlichkeit in seinem Buch "Die Angestellten" (1929), in der er vorschlägt, statt einer untauglichen Reportage (etwa einer Gerichtsreportage) ein Mosaik "zusammenzustiften" (eine konstruktiv-analytische Betrachtung). Als eine Reihe von Mosaiksteinchen kann die Kommunikation im Gerichtssaal betrachtet werden, weil sie grundsätzlich für Weiterungen und Anschlüsse offen ist; Begrenzungen und Nichtweiterführungen müssen eigens bearbeitet werden. Es kommt laufend darauf an, dass Verständigung erreicht wird über das, was verstanden und als was es verstanden werden kann. Anspielungen auf weiterreichende Themen und ,großräumige' Diskurseinlagerungen sind üblich. Sie bewirken, dass bestimmte Entwürfe und Details eher akzeptiert werden als andere, dass bestimmte Formulierungen leichter über- und angenommen werden als andere. Diese übergreifenden Konstruktionen werden als Plausibilisierungen analysiert. Die Überzeugungskraft zeigt sich da, wo kulturelle Ressourcen in die Formulierungen einfließen: märchenähnliche Analogien, mythische Erzählungen, allgemeine kulturelle Schemata. Sie tragen dazu bei, dass die Herstellung von Übersichtlichkeit in der Gemengelage der gerichtlichen Interaktionen gelingt. Einige empirische Beispiele werden vorgeführt und besprochen.