Rechtsdiskurse im Spannungsfeld zwischen Normalität und Normativität
Abstract
Bevor ein Urteil im Strafverfahren gefällt werden kann, muss festgestellt werden, was der Fall war. Es fragt sich, mit welchen Ressourcen und in welchen sprachlichen Formen strittige Sachverhalte in Rechtsdiskursen bearbeitet und entschieden werden.
These: Nur das, was spezifischen Maßstäben der Wissensprozessierung genügt, wird ins kollektive bzw. institutionelle Wissen überführt.
Die Vorstellung, dass hier "Alltagstheorien" von Entscheidern oder lebensweltliche Plausibilitäten den Ausschlag gäben, soll auf der Basis eines pragmatischen Konzepts von Normalität präzisiert und mit einem authentischen Beispiel belegt werden. Normalitätsfolien sind kollektive, gesellschaftlich erarbeitete Bilder von Ereignisabläufen, Handlungen und Dispositionen, die ihrerseits auf Wahrnehmungen, Erfahrungen und Wissen projiziert werden. Sie sind aus singulären Erfahrungen mit repetitiven Ereignisstrukturen und Verhaltensweisen generalisiert, die sich aus spezifischen Basiskonstellationen entfalten; zugleich sind sie dynamisch, unterliegen Kalibrierungen aufgrund von andersartigen Erfahrungen.
Normalitätsfolien dienen differenzierter Kategorisierung (normal, am Rand, im Übergangsbereich, nicht-normal) und Handlungsorientierung. Sie erlauben Schlüsse unterschiedlicher Art, z.B. induzieren sie Erwartungen als Extrapolationen: <wenn die Basiskonstellation BK eintritt, handeln die meisten in der Weise N>, lösen retrospektiv Abduktionen aus: <Ablauf NA läßt auf die Basiskonstellation BK zurückschließen>, sind reflexiv-regulativ einsetzbar: <in der Basiskonstellation BK handle ich so, wie es auch die meisten anderen tun würden>.